Die Schweiz wird von einer sehr überschaubaren Anzahl von Menschen gedacht und geführt. Und es sind dies nicht zwingend die sieben Bundesräte. Dieser Tage konnte man ein paar dieser Einflussreichen besichtigen. Am Fuße des Matterhorns. Hier, im unwirklich schönen Zermatt, hatte sich eine halbe Hundertschaft in gleißender Sonne versammelt. Gerufen von Avenir Suisse, der Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft und der Uni Leipzig. Auf dem Programm des 15. Zermatter Symposiums stand das Thema «Deutschland – Schweiz: Nachbar, Partner, Gegenspieler». Immer gut, immer interessant, immer wichtig. Geladen, zu sprechen und zu hören, waren Ökonomen, Unternehmer, Diplomaten, Manager, Journalisten aus beiden Ländern wie auch der Schreibende. Es sollte ein hervorragend organisiertes Treffen werden, das die Interessen und die Ängste der heutigen Eliten auf den Punkt brachte.

Ja, es war erstaunlich, wer da alles bergwärts fuhr. Zum Beispiel Wolfgang Schüssel, ehemaliger Bundeskanzler von Österreich, der per Seilbahn auf die Sunnegga, 2288 Meter überm Meer, schwebte. Um nur Tage später die Brutalität einer rasanten politischen Talfahrt zu erleben. Schüssel musste alle seine Ämter wegen Korruptionsvorwürfen ablegen.

Aber entweder ahnte der Mann noch nichts von dem ihm Dräuenden – oder er ist ein Vollprofi, der im Moment des Auftritts alles um ihn herum Wabernde verdrängen kann. Sein Vortrag über die Schweiz, von Kleinstaatler zu Kleinstaatler also, jedenfalls war so erfrischend wie wohltuend deutlich. Er schüttete zuerst Lob und Neid über den Nachbarn aus: «Dieser ungebremste Patriotismus in der Schweiz ist überwältigend!», «Nicht ein einziger Staatsbankrott in der Geschichte!», «Ihr seid ein Europa im Kleinen, macht management by diversity im besten Sinne.» Das war es dann aber, jetzt folgten die wohlwollenden Mahnungen.

Schüssel lobte den Europäischen Wirtschaftsraum EWR (zu dessen Architekten er gehört), für einen Beitritt zu diesem Netzwerk habe die Schweiz aber «viel zu wenig gekämpft». Der bilaterale Weg könne kein Ersatz für den EWR sein, denn so bekomme die Schweiz «nie verlässliche Bündnispartner». Und dann sagte er einen ziemlich harten Satz, den die anwesenden Schweizer Mächtigen aber nur kalt lächelnd entgegennahmen: «Für mich ist die Schweiz heute ein Passivmitglied der EU geworden – und sie hat sich entschlossen, dafür ihren Preis zu bezahlen.»

Nach einem flammenden Plädoyer gegen die «Selbstverzwergung» der benachbarten Kleinstaaten und ein paar selbstkritischen Worten zum beunruhigenden Demokratiedefizit in der Europäischen Union, die allen Anwesenden, Deutschen wie Schweizern, wie Syrah die Kehle runterrannen, reiste Schüssel am nächsten Morgen per Limousinenservice ab.

Aber davor wurden die eben paraphierten Doppelbesteuerungsabkommen mit Deutschland und Großbritannien von Walter Kielholz, Präsident des Rückversicherungsriesen Swiss Re, gelobt. Ohnehin sei er für den Finanzplatz «sehr zuversichtlich». Man habe erwartet, dass die Kunden viel mehr Gelder abzögen, als sie es tatsächlich getan hätten.

Interessant war auch die Aussage des auf Steuerrecht spezialisierten Anwalts Dieter Bohnert, der von Deutschen, die ihr Vermögen in der Schweiz legalisieren wollen, regelrecht überrannt wird: «Es hat mich überrascht, wie viele Deutsche Schwarzgeld in der Schweiz hatten. Das ging vom Handwerker bis zum Familienunternehmer.» Bohnert sagt, er habe es mit Menschen zu tun gehabt, die ein schwarzes Vermögen von 500 000 bis zu 160 Millionen Franken in der Schweiz gehabt hätten. Zu diesem Teil der Tagung stellten vor allem die Deutschen die Fragen, ja, sie hingen geradezu an den Lippen der Referierenden. Als Zuhörer dachte man sich: Die Schweiz hat nichts zu fürchten, das Geld wird immer seinen Weg hierhin finden.

Und beim Apéro sprachen die Herren (Frauen waren wie immer Mangelware) unter der Abendsonne vom nächsten bevorstehenden Unglück, den juristischen Drohgebärden der USA gegen Schweizer Banken. Da war denn doch eine große Hilflosigkeit zu spüren. Man sehe nur eine politische Lösung. Der Bundesrat, sagte ein Bankenmann, müsse «in corpore und mit aller Härte in den USA auftreten». Schließlich sei die Schweiz der größte Direktinvestor in den Staaten, und das seien ja wirklich Argumente, auf die ein Barack Obama im Moment hören würde. Aber, und dann kräuselte sich jeweils die Stirn der Sprechenden, das sei ja nun vom real existierenden Bundesrat nicht zu erwarten, man fühle sich halt schon im Stich gelassen. Im Übrigen möchte man sich auch als Außenstehender so ein Gruppenreisli von Bern nach Washington weniger gerne vorstellen.

Aber dann ging hoch oben auf der Sunnegga die Sonne unter, das Raclette und der Wein wurden aufgetragen, es wurde laut und lauter an den Tischen der Professoren und Ökonomen, nicht nur der dünnen Höhenluft wegen. Die Herren ließen die Hemmungen fahren und sagten, was sie wirklich denken, was sie bedrängt. Man saß an einem Tisch mit Schweizern im besten Mannesalter, mit festen Überzeugungen, guten Gehältern und wichtigen Positionen in der Schweizer Wirtschaft. Und diese Herren sagten, sie fühlten sich bedroht von den vielen deutschen Professoren, Doktoranden und Assistenten an den Unis, die ihre Seilschaften knüpften. Das Argument, so komme mehr personaler Wettbewerb an die Unis, die Schweizer, die jahrzehntelang eher in einer geschützten Werkstatt tätig gewesen seien, hätten endlich die Chance, sich in einem echten Konkurrenzkampf zu beweisen, wurde als «weltfremd» abgetan. Es könne doch nicht sein, dass sich ein Schweizer im eigenen Land gegen Ausländer behaupten müsse.

Von dort war der Weg nicht mehr weit zur Schweizerischen Volkspartei. Und in der Tat meinten die Anwesenden unisono, sie seien der SVP dankbar, weil sie die «richtigen Fragen» stelle. Nur in der Bewertung der Personenfreizügigkeit ist man noch unterschiedlicher Ansicht. Aber sonst ist man sich einig: Die Schweiz stünde ohne die SVP heute nicht so erfolgreich da.

Und dann, nach einer letzten Flasche Wein, fiel der Satz: «Die FDP ist tot.» So also klingt der Mainstream. War die Schweiz nicht immer am stärksten, wenn die Elite nicht zu den Extremen neigte?

Dieser Artikel erschien in «DIE ZEIT» vom 8. September 2011