Gerhard Schwarz, langjähriger NZZ-Wirtschaftschef, leitet seit einem Jahr den Thinktank Avenir Suisse. Unbeirrt von der aktuellen Kapitalismuskritik propagiert Schwarz mehr Wettbewerb. Sonst, so ist er überzeugt, verkümmere die Innovation.

Die neue Wirkungsstätte von Gerhard Schwarz liegt in einem alten Fabrikgebäude im Zürcher Westen, wo sich das einstige Industriequartier in ganz unschweizerischem Tempo in ein modernes Geschäftszentrum verwandelt, mit hohen Glastürmen, vielfältigen Kulturstätten und Luxus-Appartements. Das boomende Ambiente hat wenig mit dem früheren idyllischen Arbeitsort am Zürichsee gemein, von wo aus der NZZ-Journalist drei Jahrzehntelang den Liberalismus predigte. Während am alten Ort fast nur schnatternde Enten und ein paar Trams mit quietschenden Rädern die Ruhe stören, rattert und dröhnt es hier rund um die Uhr. Der Szeneriewechsel könnte kaum einschneidender sein. Doch das scheint Gerhard Schwarz nicht zu kümmern. Im Gegenteil, für den 60-jährigen Doktor der Wirtschaftswissenschaften, dem man seinen Vorarlberger Dialekt auch nach vielen Jahren an der Limmat anhört, folgt der Sprung von der NZZ an die Spitze des bekannten Wirtschafts-Thinktanks Avenir Suisse einer inneren Logik. Die Mittel mögen zwar andere sein, doch das Ziel des Wahl-Schweizers bleibt das Gleiche: die Sicherung und Verstärkung des erfolgreichen liberalen Wegs der Eidgenossenschaft.

Wer ist dieser Schwarz, der es unter Journalisten längst zu grossem Renommee gebracht hat, und der nun als Aushängeschild des bekannten Debattier- und Vordenker-Klubs zu neuen Ufern aufgebrochen ist?

Vielleicht liefert der folgende Satz, den Schwarz während des anderthalbstündigen Gesprächs ausspricht, den grössten Rückschluss auf die Person: «Viele sagen: Der Schwarz ist ein Fundamental-Liberaler. Dabei bin ich viel pragmatischer, als manch einer denkt.» Tatsächlich wirkt der Ex-Journalist und Neo-Stratege nicht wie ein Kapitalismus-Fundi, der einer politischen Ideologie zum Durchbruch verhelfen will. Vielmehr wird deutlich, dass Schwarz auch in Zeiten tiefer Wirtschaftskrise und dem Wunsch vieler Menschen nach starker Führung und Staatsinterventionen an einem schwierigen Konzept festhält, das auf die Kraft des freien Denkens und Handelns setzt.

Unser Treffen mit Gerhard Schwarz findet im hellen Sitzungsraum von Avenir Suisse an einem Spätsommertag statt, der schon um 9 Uhr mit heissen Temperaturen aufwartet. Als Erstes entschuldigt sich Schwarz für die Verspätung. Es geht zwar nur um 5 Minuten – der Bus habe länger als sonst gebraucht -, doch dem Denker im sommerlich weissen Kurzarmhemd und den dunkelblauen Baumwollhosen scheint es selbstverständlich zu sein, dass er eine vernünftige Erklärung selbst für dieses kleine Malheur abgibt.

Höflich und zuvorkommend gibt der Chef von Avenir Suisse ausführlich Auskunft über seine Überzeugungen und seinen inneren Kompass. Weil der Befragte offensichtlich gewohnt ist, zu dozieren, ergibt sich kein harter Schlagabtausch, aber ermüdend wird die Unterhaltung trotzdem nicht. Das liegt an der Begabung des sprachgewandten Schreibers, Komplexes fassbar zu machen und auf Expertensprache wenn immer möglich zu verzichten. Lässt sich theoretisches Fachwissen nicht vermeiden, schiebt er ungefragt einfache Erklärungen nach. In einer Rede bezeichnete Schwarz einmal den Journalismus ohne Werte als «wertlos». Auf die Frage nach seinen eigenen Werten lehnt er sich im Stuhl zurück, nimmt die Brille mit dem dünnen Aluminiumrahmen vom Nasenrücken und schweigt. «Eine schwierige Frage», meint er und lässt den Blick durchs Fenster in die Ferne schweifen. Nochmals verstreichen Sekunden, dann erst setzt Schwarz zu einer Antwort an. Diese reicht weit zurück, bis in seine Kindheit in den Westen Österreichs, wo Schwarz als Knabe in einer katholischen Familie aufwuchs, mit einem Kleinunternehmer als Vater, der mit Ersatzteilen für die Maschinenindustrie versuchte, im harten Wirtschaftsumfeld zu überleben. Kirche und Familie, Glaube und Wirtschaft – das sind die zwei Kraftzentren, die den jungen Gerhard Schwarz formten. Noch vor Studium und Beruf erwähnt Schwarz seinen Glauben als Stütze für seine Gedankenwelt. «Die Zehn Gebote sind wichtig, sie sind mir eine Leitschnur», sagt der vermeintlich harte Verfechter einer reinen Marktwirtschaft. Die christlichen Leitsätze würden Werte vorgeben, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit und Bedeutung für unseren Kulturraum verloren hätten. Der zweite Faktor, der ihn stark geformt habe, sei der tägliche Einsatz seines Vaters gewesen. Das ständige Auf und Ab der Wirtschaft habe er von früh auf hautnah miterlebt, erinnert sich Schwarz. «Wenn die Aufträge ausblieben, merkte ich das an der bekümmerten Miene des Vaters – und ein wenig sogar am Speisezettel.» Für mittelständische Unternehmen gab es damals noch keine staatlichen Hilfen in Krisenzeiten; entweder biss man sich durch, oder man ging unter.

Zu Religion und Unternehmertum gesellte sich Ende der 60er Jahre das Wirtschaftsstudium in St. Gallen. Es war die Zeit der meuternden Jugend in Europa, des Aufbruchs, der Studentenunruhen, mit Krawallen in den grossen Städten und Sit-ins und Debatten an den Hochschulen. Im Unterschied zu den sogennanten Revolutionären unter den 68ern habe er den konstruktivistischen Ansatz verfolgt und daran geglaubt, durch einen grossen Entwurf von oben eine neue Gesellschaftsform schaffen zu können, sagt Schwarz im Rückblick auf diese Zeit. Dass dies nicht machbar sei, sei ihm erst im Verlauf seines weiteren Weges klar geworden.

Nach dem Ende seines Studiums in St. Gallen wechselte er zunächst ins Fürstentum Liechtenstein zur dortigen Industrie- und Handelsgruppe Hilti. Dort war es dem jungen Wirtschaftsdoktor aber offensichtlich zu kommerziell. Jedenfalls heuerte er nach nur einem Jahr Unternehmenswelt auf der Wirtschaftsredaktion der «alten Dame» NZZ an, wie die Zeitung in Medienkreisen genannt wird. Sein damaliger Chef und Ressortleiter Willy Linder habe in der Folge den grössten Einfluss auf seine weitere Entwicklung gehabt, führt Schwarz aus. Vor allem habe ihn Linder in Richtung jenes Ökonomen gebracht, der für ihn bis heute das überzeugendste Konzept auf die grossen wirtschaftspolitischen Fragestellungen liefere.

Die Rede ist von Friedrich August von Hayek, dem Aushängeschild der Liberalen. Besonders angetan habe es ihm Hayeks Werk «Anmassung von Wissen», meint Schwarz. Darin weise Hayek schlüssig nach, dass sich ein komplexes Gebilde wie die Wirtschaft eines Volkes nicht top-down feinsteuern lasse. Als Quintessenz folge, dass die Verantwortlichen möglichst wenig intervenieren sollten; und zwar nicht nur, weil Freiheit oberstes Ziel sei, sondern schlicht und einfach, weil die Aufgabe unlösbar sei. Von da gelangt der Avenir-Suisse-Chef zu seinem wichtigsten Credo: dem Glauben an die Kraft des freien Konkurrenzkampfes. «Wettbewerb meint die ständige Suche nach Innovation», sagt Schwarz. «Ohne Wettbewerb ist Innovation unendlich viel schwerer zu haben».

Das gelte ebenso im Kleinen für Unternehmen als auch im Grossen für die ganze Wirtschaftsräume. Folgerichtig ist Schwarz ein Skeptiker der Europäischen Union, dieses Zusammenschlusses unterschiedlichster Länder und Kulturen, die derzeit ihre schwerste Kreise durchlebt. Obwohl das EU-Bashing in unserem Land schon beinahe zum guten Ton gehört, hält sich Schwarz mit Fundamentalkritik zurück und sagt lediglich, dass die Eidgenossenschaft als «Stachel im Fleisch der EU», wie dies einmal ein EU-Politiker gesagt habe, ein «Segen für unsere Nachbarn» sei. Es gehe nicht darum, dass die Schweiz der EU ein Vorbild sei, sondern das ihr föderalistisches dezentrales Modell Benchmarking erlaube.

Er sehe sich als kleines Rädchen im grossen Getriebe, das seinen Beitrag zur Durchsetzung des liberalen Gedankenguts in der Schweiz leiste, sagt Schwarz zum Abschluss der Unterhaltung, und drückt einem seine Rede zur Preisverleihung der «Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur» von Ende 2009 in die Hände. Am Ende seiner damaligen Ausführungen begründete Schwarz warum er sowohl im Wirtschaftlichen als auch im Gesellschaftlichen und damit Politischen die liberale Fahne hochhalte. Liberalismus setze auf Freiheit, und zwar nicht weil dadurch im Einzelfall am meisten Wohlstand zu schaffen sei, sondern aus Prinzip. «Dieses Ja zur Freiheit beruht [also] einzig auf der Erfahrung und dem Vertrauen, dass Freiheit per Saldo mehr Kräfte zum Guten als zum Schlechten auslöst», führte Schwarz aus. Es handle sich um eine zweifelnde Überzeugung, die ihm aber lieber sei als eine unbeugsame Gewissheit. Zweifeln mit Haltung – es ist diese Mischung, die Gerhard Schwarz zum liberalen Gewissen der Schweiz gemacht hat.

Dieser Artikel erschien im SWISSQUOTE ePrivate Banking Magazine vom November 2011.