In dieser Kolumne sollen möglichst eindrückliche und leicht verständliche Grafiken als Ausgangspunkt wirtschaftspolitischer Überlegungen dienen. In der diesmal beigefügten Darstellung steckt eine ganze Fülle von Informationen über die an den Lohnstückkosten gemessene preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz und die Wechselkursproblematik.

Schwache Mittelmeerländer

Das Schaubild zeigt zum einen, in welchen Ländern sich die Lohnstückkosten seit 2000 in der jeweiligen Landeswährung – Franken für die Schweiz, Euro für die ausgewählten Staaten der Euro-Zone – massvoll entwickelt haben und in welchen sie mehr oder weniger ausser Kontrolle geraten sind. Es ist nicht überraschend, dass die Mittelmeerländer Griechenland, Italien, Spanien und Frankreich (in dieser Reihenfolge) in den letzten zehn Jahren zum Teil deutlich an preislicher Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst haben. Vor allem Deutschland, aber auch die Schweiz hatten dagegen – dank entsprechenden Produktivitätsfortschritten und Lohnmässigung – die Lohnstückkosten relativ gut im Griff. Sie stiegen um 5% bzw. 15% und somit weniger stark als im Euro-Raum insgesamt (+22%), aber auch als in den USA (+19%) oder in Grossbritannien (+32%).

Die Grafik vermittelt allerdings nur einen Eindruck von der Entwicklung der Stückkosten seit 2000. Sie sagt nichts über den absoluten Stand der Wettbewerbsfähigkeit. Der starke Anstieg geht nämlich zum grössten Teil darauf zurück, dass die Mittelmeerländer anfänglich noch mit deutlich günstigeren Stückkosten operieren konnten. Im Beobachtungszeitraum haben sie nun den ursprünglichen Kostenvorsprung weitestgehend eingebüsst, ja ins Gegenteil verkehrt. So lagen die Lohnstückkosten Griechenlands in den letzten drei Jahren gemäss anderen Quellen zeitweise über denen von Deutschland. Umgekehrt hat sich dadurch dieWettbewerbsfähigkeit Deutschlands und der Schweiz gegenüber den Mittelmeerstaaten deutlich verbessert – das kommt im unterschiedlichen Anstieg der Kurven zum Ausdruck.

Die USA sind das Problem

Für die Schweiz ist diese Aussage jedoch mit einem gewaltigen Aber zu versehen. Die Grafik zeigt nämlich zum anderen – und dies ist die entscheidende Botschaft –, dass in der Schweiz der ganze Erfolg bei der Zügelung der Lohnstückkosten durch die Frankenstärke zunichtegemacht wurde. Auf den Exportmärkten, für die in der Grafik der Euro steht (in Dollars sieht es noch viel dramatischer aus), sind die Lohnstückkosten der Schweiz wegen der Höherbewertung des Frankens stärker gestiegen als jene des Problemfalls Griechenland.Dabei wurde für 2011 ein Kurs des Euro in Franken von 1.23 unterstellt; das entspricht dem Durchschnittskurs zwischen dem Jahresbeginn und dem 20. November 2011 und auch ungefähr dem derzeitigen Wechselkurs. Hätte die Nationalbank nicht im September eine Untergrenze für den Euro- Kurs deklariert und hätte sich der Kurs, wie zeitweise im August, weiterhin nahe der Parität bewegt, wären die Lohnstückkosten ganz explodiert.

Für die USA und in geringerem Masse für Grossbritannien (beide in der Grafik nicht abgebildet) sieht das Bild dagegen genau umgekehrt aus. In Euro umgerechnet sind die Lohnstückkosten der USA seit 2000 um 22% gesunken, jene des Vereinigten Königreichs um 8%; in beiden Fällen verleiht der Wechselkurs also der internationalen preislichen Wettbewerbsfähigkeit einen Schub von nicht weniger als 40 Prozentpunkten. Die Differenz zwischen dem Anstieg der schweizerischen Lohnstückkosten in Euro um 45% und dem Rückgang der amerikanischen um 22% liegt somit bei 67 Prozentpunkten. Gegenüber den USA ist das Wettbewerbsfähigkeit- Gefälle somit wesentlich grösser als gegenüber der Euro-Zone.

Ein wehleidiges Kind

Der Vergleich mit Griechenland macht auch klar, dass der Entscheid der Nationalbank, eine Wechselkursuntergrenze zu verteidigen, als Ultima Ratio gerechtfertigt war. Wenn ein Land, das sich erfolgreich bemüht, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu wahren, allein aufgrund der anderweitig genährten Wechselkurseffekte in die Nähe von Krisenstaaten abgedrängt wird, muss man sich über Desindustrialisierung nicht wundern. Eine solche findet derzeit in der Schweiz statt.

Der Beschluss der Cham Paper Group, die Papierherstellung nach Italien zu verlagern, und der offenbar knappe Entscheid von Novartis zulasten des waadtländischen Prangins und zugunsten einer Produktion in Deutschland sind nur zwei besonders sichtbare und aktuelle Indizien für eine viel breitere Entwicklung. Auch in kleineren Unternehmen geschieht Ähnliches, und vieles bleibt praktisch unbemerkt, etwa wenn hierzulande zwar nicht abgebaut, aber im Ausland ausgebaut wird oder wenn in der Schweiz Investitionen unterbleiben, die bei einer anderen Wechselkurs- Situation sehr wohl getätigt worden wären.

Die Grafik deutet schliesslich darauf hin, dass die Untergrenze von Fr. 1.20 pro Euro eine absolute Untergrenze ist. Die Exportindustrie weist zwar in Teilen einen höchstens von der Landwirtschaft übertroffenen, extrem hohen Jammerkoeffizienten auf und klagt jeweils viel zu früh über den starken Franken, so dass man ihr wie einem wehleidigen Kind nicht mehr so recht glaubt. Sie hat auch diesmal schon in der Gegend von Fr. 1.40 zum Euro oder darüber zu lamentieren begonnen. Jetzt aber, bei Fr. 1.23 zum Euro und bei fast «griechischen Verhältnissen», hat sie mit ihrem Lamento recht. Die Lage ist ungemütlich.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26. November 2011.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.