Quelle: BSV; aus: Soziale Sicherheit sichern – Plädoyer für eine Schuldenbremse

Seit dem Zweiten Weltkrieg, vor allem mit der Einführung der AHV 1948, hat die Schweiz ihren Sozialstaat rasch ausgebaut. Die Ausgaben nahmen ab 1950 deutlich zu und schnellten von nominal 1,6 Mrd. Franken auf knapp 144 Mrd. Franken im Jahr 2008 empor. Die Konsequenz: Der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandprodukt, der 1950 noch 7,6% ausmachte, hat sich seither auf 26,4% mehr als verdreifacht. Und vor allem, das zeigt die Grafik, wurden den Schweizer Werktätigen zur Finanzierung der Sozialversicherungen immer höhere Beträge von ihrem Bruttolohn abgezogen.

Bei der Einführung der AHV belief sich der Abzug dafür noch auf 4%. 1960 kamen die Invalidenversicherung und die Emerbsersatzordnung dazu, ausserdem sausten aufgrund des Leistungsausbaus der AHV die Beitragssätze in die Höhe. Ab 1978, in der Krise der Siebzigerjahre, wurde die Schweizer Arbeitslosenversicherung eingerichtet. In der Spitze frassen die Sozialversicherungen so 13,1% der ausgewiesenen Bruttolöhne weg. Dank der geringeren ALV-Abzüge im letzten Jahrzehnt sank dieser Wert zwar leicht auf gegenwärtig 12,5%. Aber darin sind die Finanzierungsbeiträge zur Sozialversicherung aus der 1995 erhöhten Mehrwertsteuer nicht enthalten.

Zwei Drittel für Sozialstaat

Für Wohlfahrt und Gesundheitswesen wandte die Schweiz 1990 noch 43% aller Ausgaben auf. Bis 2007 stieg dieser Anteil auf 53%, und er wird, wenn der Trend anhält, 2020 gut 63% aller Ausgaben ausmachen. Nun gilt für das ordentliche Budget des Bundes die Schuldenbremse: Dank ihr steht die Schweiz in der globalen Finanz- und Schuldenkrise vergleichsweise gut da. Aber die Schuldenbremse für alle anderen Ausgaben bedeutet auch, dass die Sozialversicherungen einen immer grösseren Anteil der Budgets wegfressen, also wichtige Aufgaben wie Bildung oder Infrastruktur verdrängen.

Deshalb schlägt Avenir Suisse mit der neuen Studie «Soziale Sicherheit sichern» vor, auch für die Sozialversicherungen eine Schuldenbremse einzuführen. Dafür gibt es Vorbilder in anderen Ländern, vor allem in den als sozial geltenden skandinavischen Staaten. So erhöht Dänemark das gesetzliche Pensionierungsalter zwischen 2024 und 2027 in Halbjahresschritten von 65 auf 67 Jahre. Und eine Regel legt bereits fest, dass die durchschnittliche Rentenbezugsdauer 14,5 Jahre betragen soll. Das bedeutet, dass das Pensionierungsalter noch erhöht werden müsste, falls die Lebenserwartung weiter steigt.

Autopilot oder Navigationshilfe – das ist die Frage

Eine solche Regel wird als Autopilot bezeichnet: Wenn der festgelegte Fall eintritt, gelten Gesetze ohne weitere Diskussion. Lässt sich eine solche strikte Regelung nicht durchsetzen, empfiehlt sich eine Navigationshilfe, die verlangt, dass die Politik Korrekturmassnahmen ergreift, sobald bestimmte Schwellenwerte erreicht werden. Einen Autopiloten oder zumindest eine Navigationshilfe braucht die Schweiz auch für die Sozialversicherungen. Die guten Erfahrungen mit der Schuldenbremse zeigen, dass sich grosse Probleme nur so wirkungsvoll anpacken lassen.

Fesseln wie Odysseus

Wer heute die Zeitung aufschlägt, erlebt ein Paradox. Der Auslandteil ist voll von Artikeln über die dramatische Schuldensituation in Griechenland, Italien, Spanien oder den USA, deren Staatsschulden teils mehr ausmachen als ihr Bruttoinlandprodukt (BIP), also die gesamte Wirtschaftsleistung in einem Jahr. Gegenüber diesen Ländern gilt die Schweiz mit einer Staatsverschuldung von weniger als 40% des BIP als Vorbild. Die Schuldenbremse, die die Schweiz 2003 einführte, ist denn auch zum Exportartikel geworden.

Wer aber in der Zeitung zum Inlandteil weiterblättert, stellt mit Schrecken fest, wie sich die Politiker über die Sanierung der Sozialversicherungen streiten. Bei der AM diskutiert man, ob der Reservefonds zwei Jahre früher oder später auf 50% eines Jahresbetreffnisses schwindet, nicht aber über mögliche Wege, wie sich verhindern liesse, dass die Ausgaben die Einnahmen schon bald übersteigen. Bei der IV will man Sparmassnahmen der Revision 6a teilweise einstellen, und die Notwendigkeit der Revision 6b zweifeln viele Politiker an. Damit kommt eine gewaltige Verschuldung auf uns zu: Das jährliche Defizit könnte 2050 bis zu 4o bis 50 Mrd. Franken pro Jahr betragen, entsprechend 8% des BIP.

Offensichtlich packt die Politik solche Reformen ungern an. Das ist nachvollziehbar: Kein Parlamentarier streicht gerne Leistungen oder führt neue Steuern ein, wenn sich diese Massnahmen erst in zwanzig Jahren auszahlen, also lange nach seiner Legislatur. Deshalb ist es wichtig, Massnahmen zur Selbstdisziplinierung frühzeitig zu verankern – gerade in der Schweiz, wo die direkte Demokratie Entscheidungsprozesse verlangsamt. Wie Odysseus sich an den Mast binden liess, um den lockenden Gesängen der Meerjungfrauen zu widerstehen, braucht unsere Politik Fesseln. Also eine Schuldenbremse, die sie dazu zwingt, rechtzeitig zu handeln, wenn bei unseren Sozialversicherungen ein Defizit droht.

Dieser Artikel erschien in der "Zürcher Wirtschaft" vom 08. Dezember 2011