Die Erdbeben- und Atomkatastrophe in Japan hat Konsequenzen für den europäischen Strommarkt. Der politische Druck nimmt zu, ältere und vermeintlich weniger sichere Kernkraftwerke rasch abzuschalten. Ausserdem dürfte die Akzeptanz für Neubauprojekte einen Tiefststand erreicht haben. Welchen Einfluss aber haben die Ereignisse auf die Sicherheit der Versorgung und die Preise in Europa und der Schweiz?

Die Ereignisse in Japan illustrieren, dass selbst in einem entwickelten Land schwere Unfälle in Kernkraftwerken nicht nur theoretisch sondern auch praktisch möglich sind. Natürlich ändert dies nichts daran, dass die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe sehr gering ist. Zudem können gewonnene Erkenntnisse zur Weiterentwicklung der Sicherheit beitragen, was aber eine Auswertung der Ereignisse und die Übertragung auf die hiesigen Verhältnisse voraussetzt. Angesichts der Bilder aus Japan scheint die Politik jedoch nicht darauf zu warten. In der Schweiz wurde das Bewilligungsverfahren für neue Kernkraftwerke sistiert, in Deutschland wurde ein dreimonatiges Moratorium für die Laufzeitverlängerungen sowie eine vorübergehende Abschaltung der ältesten Kraftwerke verordnet und die EU kündigte die Durchführung von «Stresstests» an.

Ausreichende Produktionskapazitäten in Deutschland

Vom Entscheid der deutschen Bundesregierung sind vorerst sieben Kernkraftwerke betroffen. Mit ihrer Abschaltung werden rund 7 Gigawatt (GW) Produktionsleistung vom Netz genommen – das entspricht etwa der doppelten Leistung aller Schweizer Kernkraftwerke. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob dies Konsequenzen für die Sicherheit der Versorgung hat. Tatsächlich verfügt Deutschland über bedeutende Reserven, die in den letzten Jahren sogar zunahmen. Die installierten Kraftwerkskapazitäten beliefen sich Ende 2009 nach Angaben der Bundesnetzagentur auf über 152 GW. 21 GW entfallen auf die Kernkraft, 76 GW auf konventionell thermische Kraftwerke (v.a. Kohle und Gas), und 14 GW auf Wasserkraft – unter Abzug der 7 GW sind das 104 GW. Darin sind mehr als 40 GW Windkraft, Solar, Biomasse und weitere nicht mitgerechnet. Diesem Angebot stand 2009 eine kurzzeitige Jahreshöchstlast (Verbrauchsspitze) von 73 GW gegenüber.

Eine grobe Rechnung illustriert, dass selbst unter Berücksichtigung von temporär nicht einsetzbaren Kraftwerken, Ausfällen und Revisionen die Deutsche Versorgung kaum in Gefahr ist. Einschränkend gilt, dass fünf der betroffenen Kernkraftwerke im Süden des Landes stehen. Damit ist die wirtschaftsstarke Region wohl vermehrt auf Strom aus dem Norden angewiesen, was die Systemstabilität etwa im Falle von Netzausfällen beeinträchtigen könnte. Eine grössere Herausforderung für die europäische Versorgungsstabilität entstünde vielleicht dann, wenn nach der EU-weiten Überprüfung zusätzliche Kraftwerke vom Netz genommen würden, z.B. in Frankreich, wo heute über drei Viertel des Stroms aus der Kernkraft stammen. Zwar ist auch dieses Land bisher Stromexporteur mit ausreichenden Produktionskapazitäten, doch könnten mindestens temporär Engpässe entstehen. So zeigte sich auch im vergangenen Dezember, dass in einer Situation, wo grössere Wartungsarbeiten an den Kraftwerken mit sehr tiefen Temperaturen zusammenfallen, die Versorgung in eine kritische Lage geraten und Importe nötig machen kann.

Anstieg der Strompreise

Die politischen Entscheide schlugen sich bereits an den Strombörsen nieder. Die Marktpreise bilden sich typischerweise anhand der variablen Produktionskosten von Gas- und Kohlekraftwerken. Kernkraftwerke sind dagegen aufgrund ihrer tiefen Betriebskosten reine «Preisnehmer». Dennoch beeinflussen sie das Marktgleichgewicht: Um stillgelegte Kraftwerkskapazitäten zu ersetzen, werden kurzfristig ältere, weniger effiziente Gas- und Kohlekraftwerke in Betrieb genommen. Die höheren variablen Kosten solcher Anlagen treiben den Preis in die Höhe. Gleichzeitig nehmen auch der CO2-Ausstoss und die Nachfrage nach CO2-Zertifikaten zu, was deren Preis und damit auch jenen des Stroms zusätzlich erhöht. Die Börse reagierte postwendend auf die Ankündigungen der Politik. Grundlaststrom, der im zweiten Quartal 2011 in Deutschland geliefert wird, verteuerte sich in nur einem Tag um rund 9 EUR auf über 60 EUR/MWh – im Januar und Februar wurde Grundlast am Spotmarkt bei etwa 50 EUR/MWh gehandelt. Auch die Preise für Lieferungen im 2012 zogen an. Marktteilnehmer befürchten offenbar zusätzliche bzw. längere Kraftwerksabschaltungen.

Die mittelfristigen Auswirkungen auf die Marktpreise sind schwer abzuschätzen. Noch ist unklar, wie viele Kernkraftwerke ausserdienst gestellt werden oder wegen Wartungsarbeiten länger stillstehen. Allfällige Zusatzkosten der Kernkraftwerksbetreiber für die Sicherheit ihrer Anlagen werden sich hingegen nicht auf den Markpreis auswirken – vielmehr reduzieren sie ihre Gewinnmarge. Ausserdem dürfte etwa für Betreiber von Wasser-, Gas- und Kohlekraftwerken die Entscheidung der deutschen Bundesregierung durchaus willkommen sein, zumal der europäische Markt in den vergangenen Monaten generell von Überkapazitäten und tiefen Preisen geprägt war. Relevant sind zudem die Entwicklungen am Gasmarkt. Unkonventionelle Ressourcen sowie Überkapazitäten beim verflüssigten Erdgas drücken auf die Preise und reduzieren die Kosten der Gaskraftwerke. In jedem Fall ist auch die Schweiz davon betroffen: Aufgrund des internationalen Handels übernimmt der Schweizer Strommarkt bereits heute die Preise der Nachbarländer. Je nach Jahreszeit und Importbedarf pendelt die Schweiz zwischen dem höheren italienischen und dem tieferen deutschen Preisniveau.

Wachsender Anteil Gaskraftwerke

Längerfristig können die Ereignisse in Japan die Struktur des europäischen Kraftwerksparks beeinflussen. Konkret ist zu erwarten, dass in Deutschland der Atomausstieg rascher vollzogen wird, während sich Italien vom vage geplanten Einstieg verabschiedet. Das aber heisst, in den wichtigsten kontinentaleuropäischen Ländern zeichnet sich keine eigentliche Kehrtwende ab. Während Frankreich schon aus industriepolitischen Erwägungen an der Kernkraft festhält, dürfte in den anderen Ländern vor allem die fossil-thermische Produktion weiter ausgebaut werden. Das mag im Lichte der Diskussionen um Klimaschutz überraschen. Doch besteht in Europa ein deutlicher Trend in Richtung Ausbau der Gaskraftwerke. Zwischen 2000 und 2009 nahmen deren Kapazitäten netto um über 80 GW zu. Und auch die weiteren Ausbaupläne sind vom Gas dominiert. Die im Vergleich zur Kohle relativ attraktive CO2-Bilanz, das günstige Gas, die flexiblen Einsatzmöglichkeiten sowie kurze Bauzeiten machen die Anlagen interessant. Da die Kosten der Windkraft relativ nahe an den Marktpreisen liegen, dürfte auch ihr Ausbau weiter voranschreiten, während die Förderung anderer erneuerbarer Energien wie Photovoltaik durch die angespannten Staatsfinanzen eher gehemmt wird.

Am grundlegendsten könnte der Einfluss der japanischen Ereignisse in der Schweiz sein, zumal an der Urne eine Ablehnung der Kernkraft immer wahrscheinlicher wird. Was aber wäre der Plan B und was wären Auswirkungen auf Versorgungssicherheit und Preise? Mögliche Optionen sind Importe, neue erneuerbare Energien oder Gaskraftwerke. Wachsende Importe sind nicht abwegig, immerhin ist die Schweiz schon heute im Winter auf solche angewiesen. Auch wären die Kapazitäten im Übertragungsnetz theoretisch ausreichend. Doch aus Sicht der Systemstabilität bestehen Risiken. So lässt sich etwa bei Störungen im Übertragungsnetz die lokale Versorgung nur schwer aufrechterhalten, wenn inländische Produktionsmittel fehlen. Daneben wird häufig darauf hingewiesen, dass mit zunehmenden Importen auch das Preisniveau sprunghaft ansteigt. Davon betroffen wären vor allem kleinere Kunden, die noch nicht im offenen Markt sind und mindestens während einer Übergangszeit von gesetzlich verordneten Gestehungskostenpreisen profitieren. Der Preiseffekt muss aber aus zwei Gründen relativiert werden. Erstens sind in einigen (v.a. westlichen) Landesteilen die Kostenpreise bereits nahe oder gar über den Marktpreisen. Zweitens werden sich im Zuge der fortschreitenden Marktöffnung die Endkundenpreise (exklusiv Netz) ohnehin konsequenter am Markt ausrichten. Und die Börsenpreise ihrerseits orientieren sich zwangsläufig an jenen der grösseren Nachbarländer. Eine einfache Analyse zeigt, dass steigende Importe und die Auktion von Netzkapazitäten an den Landesgrenzen dazu führen, dass die Schweiz ganzjährig das höhere Preisniveau Italiens übernimmt – was heute nur für den Winter gilt.

Bei der zweiten Strategie, der Förderung alternativer Energien, käme aus ökonomischer Sicht vor allem ein Ausbau der Windkraft in Frage. Da ein solcher aus Platzgründen begrenzt möglich ist, liegt der Fokus in der Politik wohl eher auf Photovoltaik. Aufgrund ihrer unstetigen Produktion eignet sie sich jedoch kaum für den Ersatz von Grundlastkraftwerken. Ausserdem sind die Kosten – mindestens bisher – ausserordentlich hoch, so dass immenser Subventionsbedarf entsteht. Zweifellos wird die dritte Option mit den Gaskraftwerken eine zentrale Bedeutung erhalten. Aber auch sie hat Nachteile: Einerseits erhöhen Gaskraftwerke den CO2-Ausstoss und stellen die Klimaziele in Frage, anderseits bestehen Versorgungsrisiken. In der Schweiz existieren keine strategischen Gaslager, zudem wird Gas grösstenteils über eine einzige Pipeline importiert. Aber auch weil Europa immer konsequenter auf Gaskraftwerke setzt, sind sie für die Schweiz wenig attraktiv. Nach wie vor ist die Abhängigkeit von russischem Gas und einer Handvoll Pipelines bedeutend. Versorgungsengpässe bleiben möglich und können die Stromproduktion empfindlich beeinträchtigen. Die Schweiz bräuchte daher auch ein Abkommen mit der EU, damit sie in Krisensituationen nicht benachteiligt wird.

Kleine Kernkraftwerke

Letztlich muss man zum Schluss kommen, dass eine Kernkraftstrategie für Schweiz aus Sicht der Versorgungssicherheit deutliche Vorteile gegenüber den drei Optionen hat. Doch im Lichte der Ereignisse in Japan erscheint es sinnvoll, sich auch über allfällige Alternativen innerhalb dieser Strategie Gedanken zu machen. Anstelle eines Grosskraftwerks liessen sich kleinere, modulare Reaktoren installieren, deren Gefahren potentiell geringer und lokal sehr begrenzt wären. Zwar sind solche neuen Reaktortypen noch nicht für den Markt lizenziert, doch existieren vielversprechende und fortgeschrittene Projekte. Schon in den nächsten Jahren könnten sie Marktreife erlangen. Gerade für die Schweiz würden sie bedeutende Vorteile aufweisen: Aufgrund der kleineren Leistung einzelner Reaktoren nimmt die Sicherheit der Versorgung zu. Zudem sinkt der Bedarf an kostspieliger Reserveenergie.

*Dieser Artikel erschien in der NZZ vom 19. 3. 2011