Leistungsbilanzen Deutschland und GIPSI-Länder

Deutschland blieb auch 2011 seinem Ruf als Exportlokomotive im Euroraum gerecht. Wie das Statistische Bundesamt meldete, wurde mit Warenausfuhren im Wert von über einer Billion Euro ein Rekord erzielt. Gleichzeitig erreichten die Importe mit über 900 Mrd. € ebenfalls einen Höchstwert. Insgesamt resultierte ein Handelsbilanzüberschuss von 158,1 Mrd. €. Rund einen Drittel davon erzielte Deutschland mit den EU-Mitgliedstaaten und den Ländern der Eurozone (auf die allein 12,3% entfielen), die restlichen knapp zwei Drittel mit Ländern ausserhalb der EU.

Letzteres wurde in der Berichterstattung der deutschen Medien auffallend stark hervorgehoben, weil seit 2002 die Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, zu denen die Handelsbilanzüberschüsse einen wesentlichen Beitrag leisten, beinahe spiegelbildlich zu den Defiziten der sogenannten GIPSI-Staaten (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien) wachsen. Daraus wird geschlossen, dass die erzielten Leistungsbilanzüberschüsse entsprechende Defizite in den wettbewerbsschwächeren Ländern der Eurozone verursachen bzw. Deutschland die GIPSI-Staaten aus dem Markt drängt. Demnach trage Deutschland zur Schaffung wirtschaftlicher Ungleichgewichte im Euroraum bei.

Während Deutschland nach der Wiedervereinigung zwischen 1991 und 2000 ein Leistungsbilanzdefizit von durchschnittlich 1%  des BIP auswies, wandelte sich dieses bis 2007 in einen Überschuss von knapp 7,5%. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf den realen effektiven (handelsgewichteten) Wechselkurs. Jener Deutschlands fiel zwischen 1995 und 2000 um 25%  und schwächte sich seither nochmals um 5% ab. Demgegenüber stiegen die realen, effektiven Wechselkurse der übrigen GIPSI-Staaten ab etwa 2000 um 10%, teilweise sogar um mehr als 20%.

reale effektive Wechselkurse Deutschland und andere EU-LänderDer reale, effektive Wechselkurs gibt Aufschluss über die preisliche Wettbewerbsfähigkeit, also die Entwicklung der Preise und Kosten eines Landes gegenüber den wichtigsten Konkurrenten auf den internationalen Märkten. Ein Anstieg des Indexes bedeutet eine Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit, was in der Regel mit der Einbusse von Marktanteilen einhergeht.

Was sind die Ursachen für die hohe Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands?

Ein Grund für die gestiegene preisliche Wettbewerbsfähigkeit dürfte darin liegen, dass der Euro-Wechselkurs aus deutscher Sicht gegenwärtig sehr günstig ist. Anders ausgedrückt: der Euro ist für Deutschland eher unterbewertet. Zur aussenwirtschaftlichen Dimension kommt hinzu, dass die Kaufkraft der Löhne (Arbeitnehmerentgelt pro Erwerbstätigem bzw. reale Kaufkraft) seit 2000 mit der Produktivitätsentwicklung nicht Schritt gehalten hat. Die realen Lohnstückkosten weisen seit der Jahrtausendwende eine Seitwärtsbewegung auf, und der Anteil der Lohnsumme an der Bruttowertschöpfung ist von über 54% im Jahr 2000 auf unter 49% im Jahr 2007 gefallen. Man kann also sagen, dass Deutschland die Exportleistung durch eine entsprechende Lohnzurückhaltung fördert. Eigentlich wäre zu erwarten, dass sich die hohe Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in steigenden Löhnen bzw. einer steigenden Lohnsumme pro Erwerbstätigem niederschlägt. Wie Abbildung 3 zeigt, hat sich jedoch ab 2000 die Entwicklung der realen Kaufkraft von der Produktivität abgekoppelt. Den deutschen Unternehmen entstehen dadurch erhebliche Kostenvorteile. Zwischen 1991 und 2000, also in der Zeit, in der Deutschland die Folgen der Wiedervereinigung zu verdauen hatte, verlief die Entwicklung der Kaufkraft dagegen noch ungefähr im Gleichschritt mit der Produktivität.

Reale Arbeitsproduktivität und Kaufkraftentwicklung 1991 – 2011Die erstaunlich robuste Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist also im wesentlichen auf zwei Faktoren zurückzuführen:

  1. Die Kostenvorteile deutscher Unternehmen infolge einer hohen Lohnzurückhaltung der Erwerbstätigen.
  2. Die für die deutsche Wirtschaft äusserst günstige Wechselkurssituation mit einem tendenziell unterbewerteten Euro.

Hätte Deutschland eine eigene Währung, würden Lohnsteigerungen oder eine Aufwertung der Landeswährung -wie sie die Schweiz erfährt-, als Reaktion auf die Produktivitätsgewinne einsetzen. Im Eurosystem bleiben diese Anpassungen jedoch aus.