Tages-Anzeiger: Der Bundesrat hat seine Strategie zum Atomausstieg konkretisiert: Er setzt auf Gaskraft, Fördergelder für Alternativenergie und Energieeffizienz. Stimmt die Richtung?

Urs Meister: Der Bundesrat würde anstelle einer Energiestrategie besser die Rahmenbedingungen klären. So könnte er die Investitionssicherheit erhöhen und Anreize schaffen, damit neue Technologien eingesetzt werden. Es ist aber nicht Aufgabe der Politik, über den Strommix zu entscheiden. Welche Technologie rentabel und zukunftsfähig ist, sollen die Stromunternehmen beurteilen.

Welches wären die richtigen Rahmenbedingungen?

Der Bundesrat soll dafür sorgen, dass für Strom endlich Marktpreise gelten. Heute ist Strom zu billig. Marktpreise hätten eine einfache Lenkungswirkung, ohne dass der Staat via Abgaben und Vorschriften steuernd eingreifen müsste. Heute haben wir in vielen Regionen faktisch subventionierte Stromtarife. Das macht zum Beispiel ineffiziente Elektroheizungen nach wie vor zu attraktiv und fördert die Verschwendung.

Weshalb ist der Strompreis zu tief?

Das Gesetz schreibt heute vor, dass die Grundversorgung zu Gestehungskosten erfolgen muss. In vielen Fällen sind diese sehr tief, weil Wasser- oder Kernkraftwerke in den Portfolios der Stromkonzerne längst abgeschrieben sind. Will ein Konzern die Preise anheben, verlangt die Regulierungsbehörde Elcom den Nachweis, dass die Gestehungskosten gestiegen sind. Das ist falsch verstandener Konsumentenschutz.

Der Bundesrat will von mehr Markt nichts wissen, im Gegenteil: Es sollen jährlich 1,7 Milliarden Franken in Gebäudesanierungen und erneuerbare Energien fliessen.

Ich bezweifle, dass dieses Geld effizient eingesetzt ist. Im Gebäudebereich drohen grosse Mitnahmeeffekte – die Anreize für Investitionen in Sanierungen sind ohnehin sehr gross, da der Ölpreis auf einem hohen Niveau ist und mittelfristig noch steigen könnte.

Wollen Sie auch kein zusätzliches Geld für erneuerbare Energien?

Wir müssen realistisch sein: Bei der effizienten Windenergie haben wir in der Schweiz wenig Potenzial. Umgekehrt ist anderswo in Europa das Potenzial für Windenergie gross. Bei uns sind die standortspezifischen Kosten für Erneuerbare hoch. Inländisches Potenzial besteht vor allem bei der Fotovoltaik – eine Technologie, die noch immer relativ teuer ist. Den Einsatz der Fördermittel sollte man in einem grösseren, europäischen Kontext betrachten.

Sie wollen mehr Strom importieren?

Müssen wir wirklich im Inland investieren, wenn es hier besonders teuer ist? Für das gleiche Geld bekommt man in ausländischen Anlagen mehr Strom. Schon heute fliesst aus unseren Steckdosen der europäische Strommix. Wir tun zwar etwas für unser Gewissen, wenn wir im Inland die Erneuerbaren ausbauen. Aber es ist eine teure, volkswirtschaftlich nicht sinnvolle Strategie. Wir träumen im Energiebereich von einer Autarkie, die es nicht gibt. Stromhandel ist gut, weil er wirtschaftlich ist.

Mit der Abhängigkeit von Importen setzen Sie die Versorgungssicherheit aufs Spiel.

Die bundesrätliche Strategie sieht ja auch Gaskraftwerke im Inland vor. Diese können aus Sicht der Systemstabilität wichtig sein – etwa bei grosser Nachfrage, Netzstörungen oder Kraftwerksausfällen. Wo und wie viele Kapazitäten zu diesem Zweck tatsächlich nötig sind, müsste der Netzbetreiber Swissgrid angeben. Daraus ergeben sich die allfälligen Standorte zusätzlicher Kraftwerke.

Die Stromkonzerne sagen, Gaskraftwerke seien gar nicht rentabel.

Tatsächlich haben wir keine Garantie, dass jemand die Werke baut. Unter den aktuellen Marktbedingungen würde ich jedenfalls kein Gaskraftwerk bauen, selbst wenn ich sämtliche CO2-Emissionen mit europäischen Zertifikaten kompensieren könnte. Wenn aber aus Gründen der Systemstabilität zwingend zusätzliche Kraftwerkskapazitäten im Inland nötig werden, dann könnte der Staat oder Netzbetreiber diese ausschreiben und für deren Bereitstellung eine Entschädigung zahlen. Ähnliche Modelle kennen wir heute schon aus dem Reserve- und Regelenergiemarkt.

Gaskraftwerke sind von links bis rechts aus klimapolitischen Gründen umstritten. Zu Recht?

Wie gesagt: Wir haben sowieso den europäischen Strommix mit einem beträchtlichen Anteil an Strom aus Gas und Kohle. Dieser wird auch mittelfristig nicht einfach durch erneuerbare Energien ersetzt. Für die Umwelt spielt es keine Rolle, ob ein Gaskraftwerk in der Schweiz steht oder jenseits der Grenze.

Sie plädieren also für die totale Integration der Schweiz in den europäischen Strommarkt?

Auf jeden Fall. Die Schweiz ist bereits heute stark integriert und lebt gut damit. Gerade für ein kleines Land ist der Handel von Strom sehr wichtig. Einerseits ist eine völlig unabhängige Versorgung viel zu teuer. Anderseits ist der Stromhandel auch ein gutes Geschäft. Besonders wenn der unregelmässige Anteil der Sonnen- und Windenergie immer grösser wird, können wir davon profitieren, weil unsere Pumpspeicherwerke zu einem beliebigen Zeitpunkt betrieben werden können.

Das funktioniert nur mit einem massiven Netzausbau.

Der Netzausbau betrifft einerseits die Übertragungsebene. Hier geht es darum, neue Kraftwerke anzuschliessen, etwa die geplanten Pumpspeicherwerke. Zudem muss das Netz an der nördlichen Landesgrenze ausgebaut werden. Swissgrid hat entsprechende Kostenschätzungen präsentiert. Andererseits braucht es Anpassungen im Verteilnetz, wenn mehr dezentrale, erneuerbare Energie produziert wird. Diese Kosten hängen stark von der Geschwindigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien ab.

Welche Rolle trauen Sie den erneuerbaren Energien im europäischen Markt künftig zu?

Ich gehe davon aus, dass vor allem die Windkraft weiter ausgebaut wird. Sie bewegt sich nahe am Marktpreis und ist deshalb relativ günstig zu fördern. Die angespannte finanzielle Situation vieler Länder führt aber dazu, dass Förderprogramme eher reduziert werden. Das Wachstum von teureren Technologien wie Fotovoltaik wird deshalb in den nächsten Jahren wahrscheinlich eher abnehmen. Gas wird länger als bisher angenommen eine wichtige Rolle spielen. Entwicklungen bei der Förderung führen dazu, dass Gas länger und zu günstigen Preisen verfügbar sein wird.

Der Bundesrat will den Energieverbrauch bis 2050 um ein Drittel reduzieren und den Stromverbrauch stabilisieren. Ist dies realistisch?

Nein, die Prognose ist zu optimistisch. Die Bevölkerung wächst kontinuierlich. Und es ist schon schwierig, den Pro-Kopf-Verbrauch zu reduzieren.

Ist eine Situation denkbar, in welcher der Bau eines neuen AKW wieder interessant und mehrheitsfähig werden könnte?

Sollte eine nächste, sicherere Reaktorgeneration auf den Markt kommen, wird die Politik diese Möglichkeit wohl sofort prüfen. Aber selbst wenn eine verbesserte Technologie gefunden ist, müsste sie auch noch rentabel sein. Da gibt es noch viele Fragezeichen.

Dieses Interview erschien am 20. April 2012 im Tages-Anzeiger.