Tages-Anzeiger Online: Herr Müller-Jentsch, wie die jüngsten Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen, sind Herr und Frau Schweizer immer mobiler. Eigentlich etwas Positives.

Daniel Müller-Jentsch: Natürlich ist Mobilität für jeden Menschen etwas Positives. Die Studie zeigt ja auch, wer mehr verdient, ist mehr unterwegs. Aber das Ganze hat natürlich auch einen Haken.

Welchen?

Unsere Verkehrssysteme kommen an ihre Grenzen. Sowohl auf der Strasse als auch auf der Schiene.

Was ist zu tun?

Die Anreize sind richtig zu setzen. Jetzt ist es ja so, dass Mobilität subventioniert wird – der öffentliche Verkehr zum Beispiel weist gerade mal einen Eigenfinanzierungsgrad von 50 Prozent auf – und das führt zu Übermobilität. Kurz: Die Mobilität ist heute zu günstig.

Und wie setzt man die Anreize, dass es nicht zu Übermobilität kommt?

Mobility-Pricing lautet die Lösung, also Verursacherprinzip und Kostenwahrheit. Wer Mobilität konsumiert, soll auch die vollen Kosten bezahlen, welche er verursacht. Besonders zum Tragen kommt dieses Prinzip beim sogenannten Peak-Pricing.

Das bedeutet?

Die Verkehrssysteme – insbesondere der öffentliche Verkehr – sind ja heute so ausgelegt, dass sie Spitzenzeiten bewältigen können. Das wiederum verursacht hohe Kosten. Mit Peak-Pricing sollten die Mobilitätskosten so verrechnet werden, dass die Spitzen gedämpft und der gesamte Verkehr besser verteilt werden kann.

Das heisst, wer zur Rushhour fährt, soll mehr bezahlen?

Ja, zum Beispiel. Oder etwa beim Rentner-Generalabonnement wäre anzusetzen. Weil es subventioniert ist, sollte man es mit der Bedingung verknüpfen, dass es während Stosszeiten nur beschränkt eingesetzt werden kann – zumal die Rentner zeitlich besonders flexibel sind.

 Sie reden vor allem vom ÖV. Liegen die Anreize nicht auch beim motorisierten Individualverkehr falsch?

Durch Mineralöl- und Benzinsteuern wird schon ein bedeutender Anteil der verursachten Kosten gedeckt. Der Eigenfinanzierungsgrad liegt sicher höher als beim öffentlichen Verkehr. Trotzdem ist es sicher nicht schlecht, sich etwa Gedanken zu einem Roadpricing zu machen.

Die Umfrage des Bundes zeigt aber gerade, dass sich die Menschen deutlich gegen höhere Belastungen ihrer Mobilität aussprechen.

Das ist zu kurz gedacht, denn bezahlt werden muss höhere Mobilität sowieso. Entweder direkt, zum Beispiel durch höhere Billettpreise, oder indirekt – man könnte auch sagen verdeckt – dann aber durch höhere Steuern. Und die Erfahrung zeigt, dass verdeckte Finanzierung die Gemeinschaft am Schluss teurer zu stehen kommt.

Warum?

Weil falsche Entscheidungen getroffen werden. Beim Verteilen von Steuergeldern kommt es oft zu einer Fehlallokation der Mittel. Nehmen wir zum Beispiel die im Bau befindliche Autobahnverbindung im Wallis zwischen Brig und Sitten, die für einen Milliardenbetrag durch den Berg gebaut wird. Viel drängender für das Schweizer Strassennetz wäre sicher der Ausbau der Hauptverkehrsachse Zürich–Bern.

Was ist zu tun?

Die Schweizer Bevölkerung muss sich bewusst werden, wie viel Mobilität sie sich leisten will, und wie das finanziert werden soll. Bisher ist man diesen Fragen ausgewichen, auch seitens der Politik. Aber die Stunde der Wahrheit rückt näher, wie die neuen Zahlen zeigen.

Sie stimmen also mit Bundesrätin Doris Leuthard überein, die tiefere Steuerabzüge für Pendler und höhere Billettpreise angeregt hat?

Ja, die Stossrichtung ist absolut richtig.

Dieses Interview erschien am 8. Mai 2012 im Tages-Anzeiger Online.
Mit freundlicher Genehmigung des Tages-Anzeigers.