Der Landbote: Wer ist schuld, dass in der Schweiz in der Sozialpolitik seit Jahren keine wirklichen Reformen möglich sind?

Rudolf Walser: Die Sozialpolitik ist in Bezug auf Reformen in einer besonderen Situation. Wenn zum Beispiel bei der AHV Änderungen vorgenommen werden sollen, sind allfällige Leistungskürzungen für den Stimmbürger sofort spürbar. Die Stabilisierung der Altersvorsorge, die durch diese Reform erreicht würde, ist für ihn dagegen erst auf lange Sicht ein Gewinn. Der Stimmbürger empfindet den unmittelbaren Verlust viel stärker als die Aussicht auf ein sicheres Vorsorgesystem in 20 oder 30 Jahren und bringt dies in der Regel auch an der Urne zum Ausdruck. Das erklärt, weshalb Reformen in der Sozialpolitik so schwierig sind. Und dies nicht nur in der Schweiz, sondern in allen vergleichbaren Industrieländern.

Dann liegt es also nicht an der direkten Demokratie, dass in der Sozialpolitik in der Schweiz nichts passiert?

Nein. Erfolgreiche Reformen brauchen in allen demokratischen Ländern bestimmte Voraussetzungen: Sie sind einfacher durchzuführen, wenn ein akutes Problem gelöst werden muss. Zudem braucht es stabile politische Mehrheiten, die hinter einem Vorhaben stehen. Das war zum Beispiel bei der Schuldenbremse der Fall, die im Jahr 2001 mit über 80 Prozent vom Stimmvolk angenommen wurde während Europa ihre Einführung derzeit  nur sehr mühsam gelingt. Leider sind diese Voraussetzungen in der Sozialpolitik seltener gegeben als in anderen Bereichen der Politik.

Die heutigen Reformen in der Sozialpolitik setzten primär auf einen Leistungsabbau. Da ist es wenig verwunderlich, dass sich das Stimmvolk querstellt. Die reiche Schweiz kann sich den Reformstau heute doch leisten?

Einen Leistungsabbau hat es im Sozialsystem der Schweiz bis jetzt noch gar nicht gegeben. Alle entsprechenden Vorhaben in der AHV oder der beruflichen Altersvorsorge sind gescheitert. Einzig bei der Invalidenversicherung konnten massvolle Korrekturen vollzogen werden. Wenn die Reformen im Sozialbereich aber weiter auf sich warten lassen, dann läuft die Schweiz bis 2030 in eine ähnlich dramatische Entwicklung hinein, wie sie sich heute bereits in anderen europäischen Ländern zeigt. Wenn nichts unternommen wird, wachsen die Sozialausgaben des Bundes, die heute schon über einen Viertel seines Budgets ausmachen, so stark an, dass andere Aufgaben nicht mehr wahrgenommen werden können. Das zeigt, dass auch in der Schweiz Handlungsbedarf besteht auch wenn zum Beispiel die AHV heute und morgen immer noch funktionsfähig ist.

Besteht in der Schweiz nur im Bereich der Sozialversicherung ein Reformstau oder hat das Land inzwischen grundsätzlich die Fähigkeit verloren, sich zu verändern?

Die Schweiz ist nicht generell reformunfähig. Das führt gerade die Reaktion der Schweiz auf die Too-big-tofail-Problematik vor Augen. Das Risiko, das die Grossbanken für das Land darstellen, wurde durch die Finanzkrise 2008 für jedermann sichtbar. Hier hat die Schweiz in kürzester Zeit reagiert, sodass sie heute im Bezug auf die Bankenvorschriften eine Vorreiterrolle einnimmt. Dass die Schweiz grundsätzlich reformfreudig ist, zeigen auch die diversen Rankings über die Wettbewerbsfähigkeit oder die Innovationsfähigkeit, in denen sie sich seit Jahren an der Spitze halten kann.

Dieses Interview erschien am 19. Juni 2012 im «Landboten» und in den
«Zürcher Regionalzeitungen».