Offen bleiben für Innovationen

Wohin steuert die Schweiz? Man könnte die Frage einfach beantworten: Dorthin, wo ihre Bürger hinwollen. Diese Antwort ist weniger banal, als es den Anschein haben mag. Die Tatsache nämlich, dass in der Schweiz das Volk in einem Ausmass mitreden und entscheiden kann wie in keinem anderen Land der Welt, ist so wertvoll und so aussergewöhnlich, dass man sie gar nicht genug betonen kann. Und dass man ihr gar nicht genug Sorge tragen kann.

In einem – gemessen an der Menschheitsgeschichte und am grössten Teil der heute lebenden Menschheit – freiheitsverwöhnten Land geht das leicht vergessen. Man fängt an, die Nachteile, nicht zuletzt auch solche ökonomischer Art, stärker zu betonen als die Vorteile. Richtig ist: Direkte Demokratie und ausgeprägter Föderalismus sind oberflächlich betrachtet ineffizient. Nur wer längerfristig und über das Ökonomische im engeren Sinne hinaus denkt, wird den Wert des politischen Systems der Schweiz schätzen. Die Schweiz sollte also weiterhin das Land sein, in dem wirklich das Volk regiert, weder Experten noch Berufspolitiker.

In dieser Genossenschaft Schweiz war neben der Freiheit immer der Zusammenhalt wichtig. Deshalb muss es Platz haben für die Solidarität mit den schwächeren Bevölkerungsgruppen und Regionen. Doch für diese zweite Zielsetzung gilt besonders das Prinzip des Paracelsus: Im Übermass wird alles zum Gift. Leider führt die Wohlstandsverwöhnung dazu, dass die Schweiz den Wohlstand als gottgegeben ansieht, seinen Preis statt seinen Nutzen in den Vordergrund rückt und ihn daher unbekümmert gefährdet. Die Schweiz sollte das Land sein, das Intervention und Ausgleich nicht übertreibt.

Daran knüpft sich unmittelbar eine dritte Zielsetzung an, nämlich, das Land wirtschaftlich zukunftstauglich und zukunftsoffen zu halten und nicht unter gut gemeinten Titeln wie Umweltschutz, Ausgleich oder Sicherheit zu Tode zu regulieren. Die Schweiz sollte das Land sein, in dem Leistung, Innovation und das verantwortungsbewusste Eingehen von Risiken besonders belohnt werden, in dem Ungleichheiten als unvermeidbare Begleiterscheinungen einer offenen und dynamischen Gesellschaft angesehen werden, in dem unternehmerische Menschen zahlreiche Chancen finden – so wie im 19. Jahrhundert, in dem die heutige Schweiz wurzelt und in dem sie die Grundlagen für ihren beispiellosen Erfolg gelegt hat.

Gerhard Schwarz, Direktor Avenir Suisse, Zürich.

Das Ziel stets in Frage stellen

Ich hatte das Privileg, für meine Geschichten mit Kindern rund um die Welt zu reisen und dabei andere Kulturen kennen zu lernen. Bevor ich jeweils die Schweiz verliess, schrieb ich mein Ziel auf. Nach einem Jahr kehrte ich mit einem fertigen Film zurück. Eine von diesen Geschichten heisst: «Shall I stay or shall I go? – Soll ich bleiben oder gehen?». Ich entwickelte sie mit ehemaligen Kindersoldaten in Sierra Leone – einem Land, das reich an Bodenschätzen war, heute zu den ärmsten gehört. Josehine (16), ein Mädchen aus dem Film, verbrachte ihre Kindheit als Soldatin im Bürgerkrieg. Sie bat mich um Geld. Ich fragte sie nach ihrem Ziel. Sie war Analphabetin, wusste aber genau, was sie wollte: einen Stand am Gemüsemarkt.

Ich ermöglichte ihr mit Maggiwürfeln, einem Sack Reis und mit einem Dutzend Knoblauchzinggen den Neustart ins Leben. Nach einer Woche hatte sie doppelt so viel auf ihrem Tisch.

Noch heute erinnere ich mich, wie Vater uns Kindern von der legendären Madame de Meuron erzählte, einer berühmten Bernburgerin, mit begehrten Wohnungen an der Junkerngasse. Wer sich bei ihr einmieten wollte, den pflegte sie zu fragen: «Sit ehr öbber, oder näht ehr Lohn?» Sie bevorzugte die Ersteren, die auf eigenen Beinen standen.

Ich selber weiss oft nicht, wo ich stehe und wohin die Geschichte mich führt. Wie jetzt, wo ich wieder einen neuen Film mit Kindern in Angriff nehme. Als Schweizerin habe ich eine Botschafterrolle, ein Privileg, das mir mein Land mitgibt, das mir ermöglicht, Brücken zu schlagen. Es verpflichtet mich aber auch, die Frage nach dem Ziel immer wieder neu zu stellen und weiter zu überdenken.

Alice Schmid, Filmemacherin («Kinder vom Napf»), Romoos.

Den Dialog mit anderen pflegen

Wenn ich mir Gedanken über den Nationalfeiertag mache, dann spüre ich immer die paar Bauern, die sich einst über den Ufern des Urnersees verständigten und sich entschlossen, gemeinsam neue Wege zu gehen. Sie führten auf dem Rütli 1291 etwas herbei, was in unserem Land auch heute noch lebendig ist. Sie haben miteinander geredet und sich in der Folge zu einem Staatenbund zusammengeschlossen.

Die menschenwürdige Gemeinschaft, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickelte und in der wir heute leben, müssen wir aber nicht nur mit unseren nächsten Nachbarn pflegen, sondern auch über die Landesgrenzen hinaus.

Der Dialog der vielen verschiedenen Menschen, die unterschiedliche Ansichten haben, muss jedoch immer weitergeführt werden. Wir dürfen aber nicht nur reden, sondern müssen auch handeln. Mit der Arbeit, die jeder Einzelne verrichtet, bringt er jeden Tag ein Stück Veränderung in unser Land und unser Leben.

Wir Schweizer haben die Waffen mit dem Wort überwunden. Wir schiessen nicht mit Kanonen, sondern erzielen Resultate mit dem Verstand. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn ich die Bilder von berühmten Malern betrachte, die Kriegsszenen zeigen, bin ich froh, dass wir heute ganz andere Probleme aufzeigen können. Wir dürfen nicht in übertriebenem Masse egoistisch handeln, sondern müssen uns als Teil des Ganzen engagieren.

Wir wollten unser Land nie vergrössern. Und unser Land wurde zum Glück nicht von aussen verkleinert. Diese Realität gibt uns Schweizern die Kraft, immer wieder Neues zu realisieren.

Hans Erni, Künstler, Luzern.

Die Schweiz soll sich treu bleiben

Schweizer Werte wie Pünktlichkeit, Genauigkeit oder Fleiss werden auch in Zukunft über die Landesgrenzen hinaus ihren Wert und ihre Wichtigkeit haben, davon bin ich überzeugt. Gerade in einem Teamsport, wie ich ihn betreibe, werden sie besonders geschätzt. Das merke ich in Frankreich.

Den 1. August habe ich schon seit acht Jahren nicht mehr in der Schweiz feiern können. Auch heuer nicht. Ich werde in Lyon zweimal trainieren und am Abend k. o. sein. Aber: Wäre ich hier, würde ich auf alle Fälle mit Freunden und Kollegen grillieren.

Mit Blick auf die Eurokrise denke ich, dass wir heute froh sein können, ist die Schweiz dem EU-Beitritt aus dem Weg gegangen. Wir dürfen ruhig ein bisschen stolz sein, wie sich die Schweiz präsentiert: Die Schweiz macht es gut, und bei dieser Lebensqualität, die wir geniessen dürfen, ist für mich klar, dass ich, wenn ich in die Zukunft blicke, selber bald wieder in dieser Schweiz leben möchte.

Die Schweiz soll politisch auch weiterhin auf ihre Parteienvielfalt setzen. Es braucht diese Mischung. Was meiner Meinung aber gar nicht geht, sind SVP-Plakate mit beispielsweise schwarzen Schafen.

Doch der Weg, den die Schweiz geht, stimmt für mich insgesamt. Klar, in Frankreich, wo ich Fussball spiele, werde ich als Schweizerin halt ab und zu immer noch klischeebehaftet wahrgenommen. Alle Schweizer seien reich, oder ich solle wieder mal Schokolade mitbringen, heisst es da. Das wird sich wohl so schnell nicht ändern.

Ja, dazu stehe ich: Wenn ich die Schweiz mit Blick auf unsere Welt in einer Skala von 1 bis 10 einordnen müsste, dann würde ich ihr eine 9 geben.

Lara Dickenmann, Profifussballerin, Kriens.

Die Schwachen nicht vergessen

Heute lese ich in der Bundesverfassung. Sie ist gut geschrieben. An der Präambel bleibe ich hängen. Ihre erhabene Sprache passt zum 1. August! Die zweite Hälfte des letzten Satzes lautet: «… und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl des Schwachen.» Aha.

An der Schweiz interessiert mich weniger, wie gut ihr Zustand ist. Wir sind und bleiben eine Luxusinsel. Lohnenswert finde ich, zu beobachten, wie die Schweiz, also wir alle, mit schwierigen Situationen umgehen. Dabei geht es häufig um Schwache.

Im Bildungswesen wurde entschieden, dass in Zukunft auch «schwächere Schüler» (woher auch immer ihre Schwäche rührt) die Regelschule besuchen sollen. Nebst Erfolgsmeldungen lese ich auch von Klagen über zu wenig Fachkräfte, zu grosse Klassen, zu kleine Budgets. Hat uns der Mut, diese Neuerung jetzt auch konsequent umzusetzen, etwa schon verlassen?

Aufgrund einer IV-Revision warten 12 000 psychisch beeinträchtigte Menschen auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Diese Zahl habe ich aus den Medien. Auch das ein anspruchsvolles Vorhaben. Der Arbeitgeberpräsident gab sich am Fernsehen eher zurückhaltend. «Wir werden unser Bestes tun», war sinngemäss seine Aussage. Ob das Beste wohl ausreichen wird? Hoffen wir es.

Es fällt mir auch der Entscheid des Nationalrates über die Nothilfe für Asylsuchende ein. 8 Franken sollen diese Menschen im Durchschnitt täglich bekommen. Da erwarte ich, dass die zustimmenden Parlamentsmitglieder den Sommer für einen Selbstversuch benützen. Und ihre täglichen Bedürfnisse von Hygiene bis Hunger mit 8 Franken befriedigen. Etwa so lange, wie eine Rolle Toilettenpapier oder eine Tube Zahnpasta reichen. Art 12 der Bundesverfassung enthält auch dazu etwas: Es besteht in der Schweiz Anspruch «auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». «Menschenwürdiges Dasein» ist interpretierbar. Wir nehmen dann, auch bei den Parlamentariern, einfach den Durchschnitt!

Wie anregend doch die Lektüre der Bundesverfassung sein kann.

Judith Stamm, alt Nationalratspräsidentin, Luzern

Dieser Artikel erschien in der Neuen Luzerner Zeitung vom 30. Juli 2012.