Der wirtschaftsnahe Thinktank Avenir Suisse hat seine Analyse des Genfer Immobilienmarktes gestern in den Club Suisse de la Presse an der Route de Ferney im Genfer UNO-Quartier verlegt, einem Quartier, das die Dynamik der Stadt Genf eindrücklich vor Augen führt. Am Place des Nations zieht die Wipo, die Weltorganisation für geistiges Eigentum, gerade einen Konferenzsaal hoch, und etwas weiter unten, am See, stellt sich die Welthandelsorganisation WTO der nicht ganz einfachen Herausforderung, ihren in die Jahre gekommenen Hauptsitz gleichzeitig zu renovieren und zu erweitern.

Auf dem Weg vom Gare Cornavin zum Club Suisse de la Presse ist die weniger dynamische Seite Genfs zu besichtigen: Hausfassaden, an denen zwischen Resten von Verputz der nackte Stein hervorlugt, Fensterläden, deren ursprüngliche Farbe sich nur noch erahnen lässt, abrupt abbrechende Hauswände und zugemauerte Fenster. Es gibt Strassenabschnitte im Umfeld des Bahnhofs, die haben auf Ortsunkundige den Effekt einer Zeitmaschine: Als ob wir nicht das Jahr 2012 schreiben würden, sondern als ob wir in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts leben würden. Genf, die Versteinerte: In keiner anderen Stadt der Schweiz ist der Anteil der nicht renovierten über vierzigjährigen Wohnungen mit 83,5 Prozent derart hoch wie in Genf. In Lausanne sind es 61,6 Prozent, in Basel 47,6 Prozent und in Zürich gar weniger als halb so viel wie in Genf, nämlich 41,3 Prozent.

Der Genfer Immobilienmarkt ist ein Spezialfall, nicht nur in Bezug auf die Renovationstätigkeit. Auch beim Neubau vom Wohnungen hapert es. 2009 hatte der Staatsrat unter Federführung des inzwischen zurückgetretenen Mark Muller, Liberaler und ehemaliger Sekretär der Genfer Immobilienkammer, den Bau von jährlich 2500 Wohnungen versprochen,
um den geschätzten Mangel von 10000 Wohnungen sukzessive abzubauen. Zwei Jahre später beträgt der Rückstand auf die Marschtabelle bereits ein Jahr. In Zahlen: 2010 wurden 1560 Wohnungen neu gebaut, 2011 waren es 1018 und für 2012 sieht es nach Angaben von Xavier Comtesse, Directeur Romand bei Avenir Suisse, nicht besser aus als 2011. Mit 0,33 Prozent liegt der Leerwohnungsbestand in Genf ein Vielfaches unter der Quote von zwei Prozent, die es für einen funktionierenden Immobilienmarkt braucht.

Zu den Zahlen gesellen sich Tausende von Episoden zur Dysfunktionalität des Genfer Immobilienmarktes. Zum Beispiel diese: Als vor Kurzem in Lancy im Rahmen der Überbauung des Gebiets La Chapelle-Les Sciers 48 Wohnungen auf den Markt kamen, gab es nicht weniger als 900 Interessenten. Kein Wunder, waren die Wohnungen innerhalb von 48 Stunden verkauft.

Das Problem ist hausgemacht

Wie aber konnte es so weit kommen? Die Frage gehört zu den am meisten
diskutierten am Genfersee. Nun greift Avenir Suisse mit einer Studie in den Diskurs ein. Im gestern vorgelegten Arbeitsdokument wird das Rad nicht neu erfunden, aber ein paar Schlussfolgerungen sind doch bedenkenswert.

Da ist einmal die Feststellung, dass die Genfer Wohnungsnot kein Naturereignis ist, sondern dass sie «une pénurie fait maison», ein hausgemachtes Problem, ist, wie es im Titel heisst. Das Bevölkerungswachstum sei in den letzten Jahren zwar stärker gewesen als in anderen Städten, sagte Studienverfasser Marco Salvi gestern. Aber die steigende Nachfrage  könne das Preiswachstum von mehr als 75 Prozent zwischen 2005 und 2010 nicht erklären. Das Problem ortet Salvi deshalb beim Angebot beziehungsweise bei den gesetzlichen Grundlagen des Genfer Wohnungsbaus. Als einen der Hauptschuldigen macht Avenir Suisse das Gesetz «sur les demolitions, transformations et renovations» aus, kurz: LDTR; eine Genfer Spezialität, wonach Hauseigentümer die Kosten für wertsteigernde Innovationen kaum auf die Mieter überwälzen können. Die Folge: Im angeblich so teuren Genf zahlen nicht wenige Mieten zwischen 500 und 1000 Franken für Drei- und Vierzimmerwohnungen. Klar, dass diese Glücklichen nicht daran denken, die Wohnung zu wechseln, womit eine weitere Auffälligkeit des Genfer Immobilienmarktes angesprochen wäre: die geringe Fluktuationsrate. Bezogen auf den ganzen Immobilienmarkt beträgt die Zahl der jährlichen Umzüge in Genf nur gerade neun Prozent. Zum Vergleich: In Zürich sind es gegen 15 Prozent, in Basel-Stadt sind es rund 13 Prozent. Mit seinen neun Prozent platziert sich Genf im Umfeld von Kantonen wie Uri, Obwalden und Baselland. «Das ist ein ländlicher Wert», sagte Xavier Comtesse gestern.

«Die Genfer bewegen sich nicht», heisst es in der Studie. Die Folge davon ist eine Zweiteilung des Immobilienmarktes. «Es gibt diejenigen, die eine Wohnung haben, und diejenigen, die eine suchen», sagte Xavier Comtesse. Oder anders gesagt: «Der überwiegende Teil der Genfer fährt nicht schlecht mit der aktuellen Situation.»

Trotzdem glaubt Xavier Comtesse, dass der Moment für eine Veränderung gekommen ist. «Die Probleme sind offensichtlich: die täglichen Staus auf der Autobahn in Richtung Lausanne und an der Grenze zu Frankreich.»

Die Bevölkerung habe genug. Die gestern vorgeschlagenen Rezepte sind «sehr, sehr Avenir Suisse», wie es ein Gast formulierte: Streichung des LDTR, Revision des Mietrechts auf nationaler Ebene, Öffnung eines Teils des Landwirtschaftsgürtels rund um die Stadt Genf.

Ungewisse Realisierungschancen

Fragt sich, wie es um die Realisierungschancen steht. Gibt es wirklich Hoffnung, dass der gordische Knoten im Genfer Immobilienmarkt bald zerschlagen wird? Dafür spricht, dass mit dem Freisinnigen Pierre Maudet heute ein Mann in der Regierung fürs Schlüsseldossier Wohnungen verantwortlich ist, der anders als sein Vorgänger Mark Muller nicht mit einer Interessengruppe verbandelt ist und den Willen hat, alle Parteien einzubinden. Dagegen spricht die von Xavier Comtesse erwähnte Tatsache, dass die meisten in Genf Ansässigen nicht schlecht fahren mit der heutigen Situation. Das Nachsehen haben diejenigen, die neu dazustossen möchten. Nur: Die entscheiden meist nicht mit in Genf.

Nicht wirklich neue Rezepte und ungewisse Chancen, dass die Rezepte auch Anwendung finden: Warum dann eine aufwendige Studie? Die Antwort gibt Marco Salvi: «Wir haben die Studie auch im Hinblick auf andere Kantone wie Zug gemacht, wo man mit ähnlichen Regulierungen wie in Genf liebäugelt.» Genf, das abschreckende Beispiel.

Dieser Artikel erschien in der Basler Zeitung vom 29. August 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der Basler Zeitung.