Der Schweiz drohe wegen des starken Frankens die Deindustrialisierung, fürchten Politiker und auch Unternehmer. Tatsächlich kämpft der Werkplatz mit Problemen, weil sich wegen der raschen und starken Aufwertung der Währung die Lohnkosten in der Schweiz massiv verteuert haben. Doch in einer längerfristigen Perspektive zeigt sich, dass kaum Grund zu Panik besteht im Gegenteil: Die Schweizer Industrie steht glänzend da, nach vierzig Jahren Angst vor dem Niedergang des Werkplatzes ist die Schweiz immer noch das am stärksten industrialisierte Land der Welt.

Schweizer vor Japanern an der Spitze

Zum überraschenden Befund kommt, wer die Zahlen genauer anschaut, die das World Economic Forum in seinem Global Competitiveness Report zusammenträgt. Mit genau 100 Mrd. $ Industrieproduktion (2010) steht die Schweiz zwar auf der Rangliste der Länder nur noch an 19. Stelle, knapp hinter Taiwan (108 Mrd.) und den Niederlanden (102 Mrd.). Bei dieser Wertung führt jetzt China als Werkbank der Welt: Von seinem BIP von 5878 Mrd. $ erarbeitet der 2. Sektor (Industrie, Energie, Gewerbe und Bau) rekordhohe 46%, die Industrie im engeren Sinn 34%; die Industrieproduktion beträgt so 1999 Mrd. Knapp dahinter liegen die USA mit 1906 Mrd.: Die führende Industrienation des 20. Jahrhunderts weist zwar mit 14658 Mrd. weiterhin ein fast dreimal so grosses BIP auf wie China, nur noch 13% davon kommen jedoch aus der Industrie.

Wer die Industrieproduktion pro Kopf errechnet, erhält aber ein ganz anderes Bild. China mit seinen 1,3 Mrd. Menschen erzielt pro Einwohner nur 1500 $ in der Industrie. Von den anderen führenden Industrienationen erarbeiten Deutschland mit 7700 $ das Fünffache und die USA mit 6000 $ das Vierfache; sogar das vermeintlich desindustrialisierte Grossbritannien, die Wiege der Industriellen Revolution, erreicht mit 4000 $ immer noch fast das Dreifache der Chinesen. An dritter Stelle liegt mit 8500 $ Singapur als einer der aufstrebenden Tigerstaaten, an zweiter Stelle mit 8600 $ Japan, das in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Industrieproduktion revolutionierte. An der Spitze dieser Wertung steht aber mit grossem Abstand die Schweiz: Mit 12400 $ pro Kopf schafft sie in der Industrie achtmal so viel Wert wie die Chinesen und doppelt so viel wie die Amerikaner.

Das Wirtschaftswunder dauert an

Wie kam es dazu? Das «Wirtschaftswunder Schweiz» begann im 19. Jahrhundert. Die Schweiz gehörte zu den am frühsten und am stärksten industrialisierten Ländern, dies dank Pionierunternehmern wie Escher-Wyss, Georg Fischer oder Rieter, die zuerst die englischen Vorbilder kopierten und darauf mit ihren tüchtigen Technikern und Mechanikern selber den Maschinenbau innovierten. So gehörten Sulzer, Saurer, Bühler oder später der Elektrokonzern BBC seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den führenden Weltfirmen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sie ihre Stellung weiter ausbauen. 1970 wies die Schweiz deshalb mit einem Anteil der Industrieproduktion am BIP von 40% (also deutlich höher als China heute) weltweit den höchsten Wert auf. Nach dem Zerfall des Währungssystems von Bretton Woods ab 1971 und dem Ölpreisschock von 1973 litt die Schweizer Industrie aber unter der schwachen Weltkonjunktur und der starken Aufwertung des Frankens. Ausserdem rächte sich, dass sie bis dahin mit einer zunehmenden Zahl von «Gastarbeitern » auf Expansion statt auf Produktivitätssteigerung dank Informatik und Rationalisierung gesetzt hatte, wie es die aufkommenden Japaner vormachten. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung halbierte sich so bis 1990 auf 20%. Dort konnte er sich aber seither halten – im Gegensatz zu allen anderen westlichen OECD-Ländern.

Denn sie liefert immer mehr hochwertige Produkte wie Pharmazeutika, Präzisionsinstrumente oder Luxusuhren. Und sie setzt bei Massengütern wie Nespresso- Kapseln, Swatch-Uhren oder Taschenmessern auf Automatisierung – die hohen Lohnkosten fallen deshalb kaum ins Gewicht.

Einerseits steigerte die Schweizer Industrie ihre Exporte weiter, weil sie auf Produkte mit hoher Wertschöpfung setzte und bei den Massengütern zur vollautomatischen Fertigung wechselte; anderseits verfügt die Schweiz dank der dualen Berufsbildung und der Personenfreizügigkeit über die hochqualifizierten Fachkräfte, wie sie die zunehmend «tertiarisierte», also von Dienstleistern geprägte Industrie braucht.

Traditionsprodukt dank Vollautomatisation

Alle Welt kennt das Swiss Army Knife und kauft es immer noch aus der Schweiz: von Victorinox. Das 128 Jahre alte Familienunternehmen aus lbach SZ behauptet sich gegen die Nachahmer in Billiglohnländern. Am Verkaufspreis eines Taschenmessers gewöhnlich das Doppelte der Herstellungskosten für die Firma – machen die Arbeitskosten in der Produktion nur 12 % aus. Zwar montieren immer noch Frauen, häufig in Heimarbeit, kleinere Serien; die meisten Messer werden aber von Automaten hergestellt. Deshalb braucht das Traditionsunternehmen immer mehr hochqualifizierte Dienstleister: Techniker, Informatiker, Marketingspezialisten. Während es vor dreissig Jahren noch 70% Angelernte und 30% Berufsleute beschäftigte, hat sich dieses Verhältnis heute umgekehrt. Dank der Automatisierung steigerte Victorinox seit 1961 den jährlichen Ausstoss von Messern pro Mitarbeiter von 2000 auf 32 000 Stück.

Dieser Artikel erschien im Magazin «CH-D Wirtschaft» vom September 2012.