Roman Schenkel: Gerhard Schwarz, was macht eine gute Reform aus?

Gerhard Schwarz: Nach einer guten Reform steht die Schweiz besser da als zuvor. Eine gute Reform hat den Sukkurs der Bevölkerung. Das garantiert, dass die Reform nicht so schnell wieder rückgängig gemacht wird. Für mich als Liberalen ist zudem wichtig, dass eine Reform die Freiheit des Einzelnen stärkt oder zumindest nicht noch weiter einschränkt. Doch das ist eine Frage des politischen Standpunkts.

Was ist denn eine gelungene Schweizer Reform?

Die Schuldenbremse ist ein gutes Beispiel. Das Schweizer Modell ist ja ein veritabler Exportschlager.

Gibt es schlechte Reformen?

Schlechte Reformen sind alle faulen Kompromisse, wenn also eine Reform durch eine andere «Reform» erkauft wird, die die erste konterkariert. Wenn am Schluss ein Nullsummenspiel herausschaut und man eigentlich nichts als heisse Luft produziert hat.

Wann gelingen Reformen?

Für das Gelingen grosser Reformen ist es wichtig, dass die Gesamtbevölkerung betroffen ist. Trifft es nur die Lehrer, die Bauern oder die Beamten, baut die entsprechende Gruppe schnell Widerstand auf, sodass politisch keine Mehrheiten mehr möglich sind. James Buchanan – Nobelpreisträger für Ökonomie – hat einmal gesagt, dass grosse Reformen nur nach Kriegen und Krisen möglich sind. Es muss einem Land relativ schlecht gehen, dass ein grosser Wurf möglich ist. Die Demokratie verhindert dies sonst.

Dann sind wir Schweizer keine guten Reformer?

Nein, wir sind keine besonders guten Reformer. Wir sind gut im Schmieden von Kompromissen – nicht nur von faulen Kompromissen, auch von guten Kompromissen. Dafür haben wir weniger Hüst und Hott. Früher habe ich mich geärgert, dass unsere Prozesse so langsam sind. Heute erkenne ich darin auch etwas Gutes: Auch die – von meinem Standpunkt aus gesehen – falschen Reformen sind in der Schweiz schwierig durchzubringen.

Gerade im Bereich der Sozialwerke sind Reformen besonders schwierig zu erreichen. Woran liegt dies?

Nehmen wir den Umwandlungssatz bei der zweiten Säule. Eigentlich ist die Botschaft leicht zu verstehen: Es gibt immer mehr ältere Leute, die immer älter werden. Dass die Rente, die sie pro Jahr erhalten, kleiner werden sollte, müsste allen einleuchten. Die angesparte Summe bleibt ja gleich und muss einfach auf mehr Jahre verteilt werden. Aber Stimmbürger im Rentenalter oder kurz davor sagen sich natürlich: «Ich stimme doch nicht einer Änderung zu, die mich schlechterstellt.»

Wieso ist der Widerstand bei der AHV so gross?

Die AHV ist für die heutige Rentnergeneration und auch für meine Generation fast ein Mythos. Sie war das erste grosse soziale Projekt der Schweiz. Und sie hat etwas Egalitäres – sie bietet eine Mindestsicherung für alle – egal ob arm oder reich. Wenn man dort anfängt zu kürzen, ist der Widerstand natürlich gross; zumal die AHV-Rente nicht wirklich hoch ist.

Wo liegt denn die Lösung?

Wichtig ist es, das ganze Thema der Altersvorsorge in ein positives Licht zu stellen. Es ist ja nicht so, dass wir Schweizer ungern arbeiten. Aber oft ist die Belastung im Berufsleben während der aktiven Jahre zu hoch. Wir sollten dahin kommen, dass die Leute länger arbeiten können und auch wollen. So bleibt im Rententopf mehr für eine höhere Rente, wenn man dann ganz aufhört zu arbeiten. Es braucht einen Wechsel vom Müssen zum Können. Bei Avenir Suisse haben wir zwei Mitarbeiter, die über 65 Jahre alt sind und die gerne Teilzeit arbeiten.

Die Erhöhung des Rentenalters ist also der Schlüssel.

Wenn die Kosten höher werden, weil die Zahl der Rentner zunimmt und diese zudem länger leben, bleiben drei Möglichkeiten. Entweder bezahlt die aktive Bevölkerung mehr, die Rentner erhalten weniger Geld, oder wir arbeiten länger. Die Lösung liegt in einem Mix dieser drei Möglichkeiten: Die Rentner müssen ihren Beitrag leisten, die Aktiven müssen mehr bezahlen und die Lebensarbeitszeit muss verlängert werden.

Der schwedische Regierungschef Reinfeldt sagte kürzlich: Will Schweden das Wohlfahrtsniveau und Pensionssystem künftig aufrechterhalten, müssen mehr Leute bis 75 Jahre arbeiten. Gilt dies auch für die Schweiz?

Avenir Suisse hat bezüglich Rentenalter zwei Vorschläge gemacht. Der eine sieht vor, dass man die Höhe des Rentenalters jedes Jahr der Lebenserwartung anpasst. Steigt die Lebenserwartung, steigt auch das Rentenalter. Untersuchungen zeigen, dass wir pro Jahr 1,5 Monate älter werden. Das hiesse, dass es 16 Jahre dauerte, bis das Rentenalter von 65 auf 67 angehoben würde. Das ist eine lange Zeit.

Und der zweite Vorschlag?

Der zweite Vorschlag wird in Dänemark bereits umgesetzt. Die Dänen haben Geld, um 14,5 Jahre nach dem Eintritt in die Rente zu finanzieren. Das bedeutet, dass das Rentenalter laufend mit der Lebenserwartung schwankt. Beträgt die Lebenserwartung beispielsweise 83 Jahre, müsste das Rentenalter bei 68,5 Jahren liegen. Sinkt oder steigt die Lebenserwartung, muss das Rentenalter entsprechend angepasst werden.

Um die AHV zu sanieren, steht auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Diskussion?

Ich bin kein grosser Freund der Mehrwertsteuer als Finanzierungsinstrument. Sie hat zwar den Vorteil, dass sie nicht wie die Einkommenssteuer die Leistung bremst, aber das ist zugleich das Problem: Sie ist nicht spürbar. Deshalb ist sie für die Politik eine unglaubliche Versuchung – bei einer Erhöhung gibt es tendenziell weniger Widerstand. Steigen hingegen die direkten Steuern, formiert sich viel eher Widerstand. Zudem geht man, indem man ein halbes Prozent mehr auf jedes Bier und jedes Kleid bezahlt, das grundlegende strukturelle Problem der AHV nicht an.

Wäre es ein gutes Mittel, die Schuldenbremse auf die Sozialwerke auszuweiten, um die Kosten einzudämmen?

Ich bin der Meinung, dass die Schuldenbremse für die Sozialversicherung etwas vom Wichtigsten ist, was kommen muss. Avenir Suisse hat diese Idee 2011 lanciert. In den EU-Ländern, in denen die Schweizer Schuldenbremse kopiert wird, gilt sie auch für die Sozialwerke, weil diese Teil des Staatshaushaltes sind. Es gibt im Prinzip zwei Möglichkeiten. Fällt der AHV-Fonds unter eine bestimmte Schwelle, treten automatisch bestimmte vorher festgelegte Sanierungsmassnahmen in Kraft. Wir nennen das den «Autopiloten». Realistischer ist vermutlich die «Navigationshilfe», das heisst, dass der Bundesrat verpflichtet wird, Massnahmen zu treffen, um die AHV zu sanieren, sobald die Reserven die festgelegte Schwelle unterschreiten.

Das wäre wieder eine grosse Reform für die Schweiz. Wie bringt man sie politisch durch?

Damit könnte die AHV nachhaltig gesichert werden. Man muss die AHV einfach auf eine vernünftige ökonomische Basis stellen. Und man muss auch in der Sozialpolitik Mass halten. Blähen sich die Sozialwerke immer weiter auf, bleibt für die vielen anderen Aufgaben, die Bildung, die Infrastruktur, das Gesundheitswesen, immer weniger Geld. Das muss man den Menschen klarmachen. Und dafür viel Geduld aufbringen.

Dieses Interview erschien in der Neuen Luzerner Zeitung vom 27. Oktober 2012.