Herr Schwarz, in der technischen Betrachtung geht es dem Schweizer Mittelstand gar nicht so schlecht. Wo liegt also das Problem?

Das ist so. Dem Schweizer Mittelstand geht es besser als noch vor 10 oder 20 Jahren. Und dem Schweizer Mittelstand geht es besser als dem deutschen, französischen und italienischen Mittelstand. Aber wen überrascht das schon? Schon überraschender ist, dass bei uns trotz Krise kein Einkommensrückgang eingetreten ist.

Wo also liegt das Problem?

Der Mittelstand ist ein relativer Begriff, der sich gegenüber den beiden Polen oben und unten definiert. Und gegenüber diesen hat der Mittelstand verloren. Relativ gesehen geht es dem Mittelstand also schlechter. Interessant ist, dass nicht nur die Oberschicht zulegen konnte – um etwa 15 Prozent – , sondern auch die Unterschicht, die sich um 7 bis 10 Prozent verbessert hat.

Die Pole erdrücken den Mittelstand?

Der Abstand zur Unterschicht ist kleiner geworden im Vergleich zu früher. Der Abstand zur Oberschicht dagegen grösser. So gesehen ist der Mittelstand in Richtung Unterschicht abgerutscht. Das entspricht auch der gefühlten Realität vieler Menschen. Es liegt in der menschlichen Natur, dass wir uns mit anderen Teilen der Gesellschaft vergleichen. Und wenn wir feststellen, dass wir mehr unter Druck kommen und weniger profitieren als andere, dann löst das Stress aus, und wir fühlen uns benachteiligt. Der Mittelstand hat immer von der Perspektive gelebt, wenn ich mich anstrenge, dann schaffe ich es vielleicht, in die Oberschicht aufzusteigen. Die jüngste Entwicklung geht aber gerade in die andere Richtung.

Ist der Aufstieg in die Oberschicht schwieriger geworden?

Der Aufstieg nach oben ist deutlich schwieriger geworden. Man kann nicht sagen, dass der Fahrstuhl nach oben besetzt ist, aber er fährt deutlich langsamer als früher. Das hat nicht zuletzt mit der staatlichen Umverteilung zu tun.

Welchen Effekt hat die Umverteilung?

Der obere und mittlere Mittelstand wird an den unteren Rand des Mittelstands geschoben. Der Aufstieg ist dadurch sehr erschwert worden. Wenn nicht so stark umverteilt würde, hätte der obere Mittelstand die Chance, nach oben aufzusteigen. Durch die staatliche Umverteilungsmaschine wird die Mitte komprimiert. Das ist ein echtes Problem.

Warum?

Wenn man die Krippenbeiträge und Krankenkassenzuschüsse mitberücksichtigt, werden Mittelstandseinkommen mit einem impliziten Grenzsteuersatz von 90 Prozent belastet. Dabei sind Beiträge für Sozialwohnungen noch nicht mal eingerechnet. Wenn man diese auch berücksichtigen würde, geht es den Menschen oft besser, wenn sie weniger oder gar nicht mehr arbeiten.

Deshalb wollen Sie einkommensabhängige Gebühren abschaffen?

Einkommensabhängige Gebühren wie Krippenbeiträge und Krankenkassenbeiträge gehören abgeschafft, weil sie völlig falsche Anreize setzen. Der Staat sagt: Hier hast du Geld, damit du dein Kind fast gratis in die Krippe geben kannst, und die Krankenkassenprämien schenken wir dir auch noch. Später bekommst du noch Stipendien. Auf der anderen Seite der Skala belasten wir die Starken, wo es nur geht. Da sagt der Staat: Wir geben dir eine bestimmte Vergünstigung nicht, weil du eine bestimmte Einkommensschwelle überschritten hast. Das führt dazu, dass Menschen genau abwägen, ob sie mehr arbeiten sollen oder nicht. Das ist ein perverses System – weg damit.

Gibt es diese Leute überhaupt, die ihre Arbeitspensen tatsächlich aus diesen Gründen reduzieren?

Da gibt es meines Wissens keine Erhebung dazu. Aber wenn ich mein unmittelbares Umfeld anschaue, sind die Debatten geprägt von der Frage, was es ökonomisch bedeutet, wie viel ich arbeite.

Die Umverteilungsmaschine würgt den Aufstiegsmotor ab?

Eine Gesellschaft lebt von Leuten, die aufsteigen wollen und ehrgeizig sind. Wenn ich mehr arbeite, dann geht es mir besser, dann erreiche ich etwas, dann steige ich vielleicht in die erhoffte Einkommensklasse auf. Die berühmte Tellerwäscherkarriere muss heute noch möglich sein. Problematisch ist es, wenn die Menschen nicht vom Fleck kommen, auch wenn sie sich noch so sehr anstrengen. Mit der heutigen Umverteilungsmaschine wird genau das erreicht.

Wie sollte sonst umverteilt werden?

Grundsätzlich sind wir von Avenir Suisse immer der Meinung, dass man nicht verschiedene Instrumente der Umverteilung wählen sollte, sondern nur eines, nämlich das der Steuern. Wir finden es falsch, wenn man hier und dort etwas verbilligt und einkommensabhängige Gebühren einführt. Das führt am Schluss zu einer völlig intransparenten Situation, wo weder der Staat noch der Einzelne den Überblick behält.

Wollen Sie das Sozialsystem abschaffen?

Wir sind nicht für die Abschaffung des Sozialwesens. Aber wir müssen schauen, dass es nicht überall so weit kommt wie bei den Krankenkassen, wo bereits die Hälfte der Bevölkerung in den Genuss von Prämienverbilligungen kommt. Es ist ja nicht so, dass die Hälfte des Landes arm dran wäre.

Nur den Bedürftigen helfen?

10 bis 20 Prozent der Bevölkerung geht es weniger gut. Diese Bedürftigen sollen auch Hilfe erhalten. Aber über dieser Armutsschwelle sollte es nichts mehr geben.

Klagen wir nicht auf sehr hohem Niveau?

Das ist so. Wir Schweizer klagen generell auf hohem Niveau, sei das beim Zustand der Strassen oder des Gesundheitswesens. In einem reichen Land klagt man immer auf hohem Niveau. Wenn wir uns über die Armut in der Schweiz beklagen, dann klagen wir ebenso auf hohem Niveau, verglichen mit Ländern wie Rumänien oder auch Indien. Wenn Sie diesen Leuten etwas über unsere Armut erzählen, dann fragt sich jeder: Wer ist in der Schweiz überhaupt arm?

Viel geklagt wird auch über den Wohnungsmarkt. Schaut man die Zahlen an, scheint der Mittelstand vom Druck verschont zu sein. Warum?

Die Eigentumsquote ist deutlich angestiegen und liegt inzwischen auf über 40 Prozent. Das hat selbstverständlich auch mit den günstigen Zinsen zu tun. Der Mittelstand ist daher geschützt von den Preissteigerungen im Wohnungsmarkt. Aber auch bei den Mietwohnungen ist der Mittelstand geschützt. Das System der Kostenmiete bringt zwar Nachteile für all jene, die neu in den Wohnungsmarkt einsteigen, wie junge Familien und Ausländer.

Findet also die sogenannte Zugifizierung gar nicht statt?

Weitestgehend. Der Mittelstand wird in Boomregionen nur begrenzt verdrängt. Natürlich ist es in bestimmten Gebieten schwieriger geworden, eine Wohnung zu finden. Besonders für Junge, die das elterliche Haus verlassen wollen, oder auch Ausländer, die sich in Städten niederlassen wollen.

Drückt Zuwanderung den Mittelstand zusätzlich an den unteren Rand?

Avenir Suisse hatte den Begriff der neuen Zuwanderung definiert. Früher kamen ja nur Unterschichten in die Schweiz, welche die Schweizer Mittelschicht nicht bedrängt hatten. Mit der neuen Zuwanderung kommen Menschen mit sehr hoher Ausbildung in unser Land. Sie werden plötzlich zu Konkurrenten für den oberen Mittelstand, auf dem Arbeitsmarkt, aber auch auf dem Wohnungsmarkt. Es kann zu Frustrationen führen, wenn ihnen ein Ausländer eine Wohnung vor der Nase wegschnappt. Wäre es ein Schweizer gewesen, sähen sie das als ein weniger gravierendes
Problem an.

Braucht es eine Grenze bei der Zuwanderung?

Für Liberale wie mich sind Begrenzungen etwas sehr Schwieriges, da wir grundsätzlich für offene Märkte sind. Die Schweiz profitierte extrem von der Zuwanderung im 19. Jahrhundert. Andererseits ist es eine anthropologische Konstante, dass Identitätsängste geweckt werden, sobald viele Fremde in kurzer Zeit in ein Land strömen. Die Grenze wird nicht zuletzt durch die Nachfrage nach Arbeitsplätzen bestimmt. Solange es Arbeitgeber gibt, die neue Stellen besetzen wollen, sollten wir die Zuwanderung zulassen. Wenn es nur Zuwanderung von Wirtschaftsflüchtlingen gibt, dann wird es problematisch.

Dieses Interview erschien in «Der Sonntag» vom 18. November 2012.