Die Volkswirtschaftslehre liefert kontraintuitive Ergebnisse zuhauf. Darin liegt ihr Wert, aber auch ihr Provokationspotenzial. Würde sie nur unsere Intuitionen bestätigen, wäre sie weitgehend nutzlos, aber weil sie das nicht tut, sondern immer wieder Überraschendes bietet, eckt sie oft an.

Ein Beispiel für eine solche gängigen Intuitionen und Vorurteilen zuwiderlaufende Aussage ist die hier dargestellte Grafik, die auf einem Artikel von Scott Baier, Matthew Clance und Gerald Dwyer im Jahresbericht 2012 «Economic Freedom of the World» des Fraser Institute in Vancouver basiert. Sie zeigt, dass Deregulierung und wirtschaftliche Freiheit Bankenkrisen nicht, wie allgemein geglaubt, wahrscheinlicher machen, sondern im Gegenteil die Wahrscheinlichkeit von Bankenkrisen reduzieren. Die Resultate, die zwar nur die Jahre zwischen 1976 und 2008 umfassen, sind zu differenziert, als dass man sie als Propaganda beiseiteschieben könnte.

Fragwürdige Versicherung

Unter Bankenkrisen verstehen die Autoren deutliche Anzeichen von finanziellem Stress im Bankensystem und starke politische Interventionen als Reaktion auf markante Verluste im Bankensystem. Der Effekt zeigt sich sowohl bei der wirtschaftlichen Freiheit insgesamt als auch bei zwei in diesem Zusammenhang relevanten Subindikatoren, der Regulierung der Kreditmärkte und der Politik soliden Geldes («sound money»). Länder mit geringer wirtschaftlicher Freiheit (gemäss jedem dieser drei Indikatoren) weisen deutlich mehr Bankenkrisen auf als solche mit hoher Freiheit. Allerdings verläuft die Korrelation nur bei der Kreditmarkt-Regulierung einigermassen geradlinig: Je strenger der Kreditmarkt reguliert war, umso mehr Bankenkrisen gab es.

Etwas weniger eindeutig sieht es beim Indikator «sound money» aus. Länder, die den Zugang zu Geld liberal lösen und wenig Inflation aufweisen, schneiden in Sachen Bankenkrisen nämlich minim schlechter ab als jene, die etwas weniger Wert auf solides Geld legen. Insgesamt sind jedoch die Unterschiede zwischen den «unsolidesten» und den übrigen Ländern mit zwei- bis dreimal so viel Bankenkrisen frappant. Ähnlich sieht es beim Gesamtindikator der wirtschaftlichen Freiheit aus. Dazu passt, dass generell beim Zusammenhang von wirtschaftlicher Freiheit und Bankenkrisen ein Basiseffekt zu beobachten ist. Wenn wirtschaftlich sehr unfreie Länder Liberalisierungen vornehmen, reduziert dies die Wahrscheinlichkeit von Bankenkrisen viel stärker, als wenn relativ freiheitliche Länder weitere Liberalisierungsanstrengungen unternehmen.

Die Autoren untersuchen auch den Effekt einer der populärsten staatlichen Regulierungen, der Einlagenversicherung. Von 142 untersuchten Ländern kannten 52% eine solche Versicherung im Jahr 1975, 2008 waren es 56%. Und kaum überraschend zeigen Länder mit einer Einlagenversicherung durchs Band ein höheres Risiko von Bankenkrisen, ganz unabhängig davon, ob sie insgesamt wirtschaftlich relativ liberal oder eher interventionistisch geprägt sind. Die Begründung ist nachvollziehbar: Die Sicherheit, die die Versicherung den Anlegern gibt, macht sie sorgloser, was der Bank niedrigere Zinsen und damit einen grösseren Risikoappetit erlaubt. Man könnte allerdings, wie immer bei Korrelationen, die Kausalität auch umgekehrt sehen. Das würde bedeuten, dass Länder, in denen die Wahrscheinlichkeit von Bankenkrisen kleiner ist, weniger versucht sind, Einlagenversicherungen aufzuziehen.

Eine andere Frage, die in der Arbeit untersucht wird, lautet, ob die wirtschaftliche Freiheit nach Bankenkrisen zu- oder abnimmt. Und in dem Punkt wird bestätigt, was jeder Laie vermuten würde: Nach Bankenkrisen wird es enger, geht die wirtschaftliche Freiheit zurück. Kaum überraschend ist auch, dass die Freiheit auf den Kreditmärkten stärker zurückgeht als die Wirtschaftsfreiheit insgesamt. Allerdings wird dieser Rückgang noch übertroffen von jenem beim Indikator «sound money».

Negierte ökonomische Logik

Baier, Clance und Dwyer erliegen nicht der Versuchung, die Ursache für die unvernünftige Politik in populistischen Politikern und irrationalen Stimmbürgern zu suchen. Vielmehr sehen sie in steigenden Inflationsraten und einem erschwerten Zugang zu Devisen fast natürliche Folgen von Krisen. Beides sind zwar nicht Regulierungen im engeren Sinne, aber sehr wohl Ergebnisse staatlicher Politik. Auch erwähnen sie Studien, die zu anderen Ergebnissen kommen, nämlich im ersten Jahr nach der Krise einem Rückgang, über eine Fünf-Jahre-Periode hinweg aber einem Zuwachs an wirtschaftlicher Freiheit. In der nun schon rund fünf Jahre dauernden Krise ist allerdings von solcher Liberalisierung noch nichts zu spüren.

Die Politik scheint eher der Intuition zu folgen als der ökonomischen Logik. Die Folgen werden dann ebenfalls erst in Jahren erkennbar sein – nämlich weniger statt mehr Stabilität. Allerdings krankt die hier zitierte Untersuchung daran, dass sie, wie viele quantitative Studien, die Qualität ausblendet. Ob es am Schluss nicht mehr an der Art und Weise der Regulierung liegt, an den Widersprüchen zwischen den verschiedenen Verordnungen, ihrer ungenügenden Durchsetzung, ihrer zu komplizierten Ausgestaltung und Detailversessenheit – all das zeigt unsere Grafik nicht. Aber eines dürfte klar sein: Solange Regulierungen und staatliche Interventionen so sind, wie sie in den letzten fast 30 Jahren in den untersuchten Ländern waren, erhöhen sie das Risiko von Bankenkrisen, statt es zu senken.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. Dezember 2012.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.