Jeder hat es in der Schule gelernt: Die Schweiz ist etwas Besonderes. Sie hat die direkte Demokratie. Sie kennt das Milizsystem, das jeden Schweizer dazu einlädt, seinen Beitrag an die Allgemeinheit zu leisten. Doch wird dieses System den Anforderungen der Zeit noch gerecht?

Das Milizsystem gehört zur Schweizer Identität, im Bild: Feuerwehrautos (Bildquelle: Wikimedia Commons)

Das Milizsystem, wo auch die Feuerwehr dazugehört, ist Teil der Schweizer Identität (Bildquelle: Wikimedia Commons)

Jüngere Studien und Analysen zum Milizsystem und zur Freiwilligenarbeit zeichnen ein eher düsteres Bild. Den Parteien geht die Basis verloren, sie haben immer mehr Mühe, geeignete Kandidaten zu finden. Die Individualisierung, aber auch die globalisierte Arbeitswelt führen dazu, dass die Bereitschaft für die Milizarbeit abnimmt. Kleinere Gemeinden fühlen sich durch die Verrechtlichung und zunehmenden Mediatisierung auch  lokaler Ämter überfordert.

Das Milizsystem setzt engagierte Freiwillige voraus

Mit dem zunehmenden Ineinandergreifen von Arbeits- und Privatwelt will der Bürger nicht noch eine dritte Sphäre, die der Miliz- und Freiwilligenarbeit, in sein Leben integrieren. Der Aufwand für längerfristiges Engagement in Vereinen ist zu gross, die zu erwartende Wertschätzung am Sinken – so  könnte die Zusammenfassung lauten.

Ideengeschichtlich beruht das Milizsystem auf republikanischen Tugenden. Das politisch-administrative Handeln wird zu einem guten Teil nicht bürokratischen Verwaltungsformen, sondern nebenamtlich tätigen, gewählten Bürgern übertragen. Das Milizsystem setzt freiwilliges Engagement  voraus. Das republikanische Verständnis steht in einem gewissen Widerspruch zu den heutigen  individuellen Werten der Bürger. Das Engagement im Milizsystem steht in Konkurrenz zur Freizeitgesellschaft mit ihrem vielfältigen Angebot.

Aber der schweizerische Milizstaat braucht funktionierende Behörden. Im Milizsystem wird die freiwillige Teilnahme von genügend Bürgern vorausgesetzt. Die Bürger dürfen sich als Kollektiv nicht auf eine Zuschauerrolle zurückziehen. Das republikanische Modell, wie es noch Gottfried Keller vorschwebte, das vom Bürger wie selbstverständlich freudige Beteiligungsabsicht erwartete, hat sich in der heutigen realen Schweiz in ein Modell verwandelt, in dem Milizarbeit gewählt werden kann – oder auch nicht.

Ohne Reformen geht es nicht mehr

Man muss sich die Frage stellen, ob das schweizerische Milizsystem zukunftstauglich ist oder ob es nicht mehr und mehr zu einem Mythos verkommt. Die Gefahr ist real, dass eine sich öffnende Diskrepanz zwischen einem idealisierten Milizsystem und der dahinter verborgenen Wirklichkeit, die sich zu Ungunsten des Milizsystems entwickeln könnte, totgeschwiegen wird. Zu oft schaut man weg, wenn Gewissheiten plötzlich Risse bekommen. Die Krux: Wenn  sich die angesprochene Entwicklung fortsetzte, bekäme die Schweiz ein eigentliches  Identitätsproblem, gilt doch das Milizsystem neben der direkten Demokratie und dem Föderalismus als zentraler Bestandteil des Selbstverständnisses der Schweiz.

Wenn das Milizsystem umfassend diskutiert werden soll, muss dies ohne Tabus geschehen.  Kann die Qualität des Milizsystems mittelfristig  aufrechterhalten werden?  Oder geht die gesellschaftliche Entwicklung in eine Richtung, die unumkehrbar ist? Braucht es mehr Professionalisierung in Politik und Militär? Braucht es mehr Zwang, damit die Ämter besetzt werden? Braucht es mehr Fusionen unter den Gemeinden? Ist in einer solchen Perspektive die Idee einer Schweiz von unten nach oben noch zeitgemäss und umsetzbar oder wird sie langfristig zu einer verklärten Legende?

Die übergeordnete Frage ist, welche Bedeutung eine weitere Schwächung des Milizsystems für die reale Schweiz hätte. Wie würde oder müsste sich unser Selbstbild verändern? Was bliebe von der republikanischen Idee einer Schweiz, die vom Engagement ihrer eigenen Bürger lebt? Bestünde dieses zusätzliche Engagement nur mehr darin, dass man vierteljährlich brieflich abstimmte, falls man gerade Zeit und Lust dazu hätte? Welche Stellung nähmen die Stimmbürger gegenüber dem  «übergeordneten Gut» Schweiz ein? Würden die Staatsbürger vermehrt zu passiven «Staatskunden»? Würde man das Interesse der Schweiz in erster Linie gleichsetzen mit allem, was einem selbst und seiner Familie nützt? Welche Folgen hätte es für die traditionell liberale Schweiz, wenn  es den (Klein)unternehmer, der zusätzlich noch im Militär und in der Politik «Karriere» macht, nicht mehr gäbe?

Solche Fragen gehen an die Essenz der Schweiz, das Ergebnis ist offen. Die Politik kann es sich nicht (mehr) leisten, hierzu einfach Sonntagsreden zu halten. Auch die Wirtschaft wird sich die Frage stellen müssen, was ihr das Milizsystem wert ist. Grund genug, genau diese Fragen in Zukunft zu einem grossen Thema zu machen und nach möglichen Antworten zu suchen.