In einer jüngst veröffentlichten Studie zur Zukunft der Berufslehre hat Avenir Suisse vorgeschlagen, das Schweizer Bildungssystem mit einem «dualen Studium» für gymnasiale Maturanden zu ergänzen. Wie in der klassischen Lehre suchen die Bewerber einen Lehrbetrieb, die Fachhochschulen übernehmen den theoretischen Teil der Ausbildung. Der Vorschlag wurde überwiegend mit Interesse aufgenommen. Es wurde aber auch eingewendet, dies führe zu einem Prestigeverlust der heutigen Berufslehre und werde das Bildungssystem weiter «verakademisie-ren». Befürchtungen wurden laut, ein solches Angebot werde die Basis der gewerblichen Lehren untergraben.

Im internationalen Standortwettbewerb wird sich die Schweizer Wirtschaft zunehmend auf die wissensintensiven Bereiche der globalen Wertschöpfungsketten spezialisieren müssen. Diese Entwicklung macht auch vor der Berufsbildung nicht halt. Ausbildungsbetriebe klagen, es fehle an qualifizierten Bewerbern. Zum einen ist dies die Folge des verschärften Wettbewerbs um die jungen Talente. Zum andern äussernsich darin die gestiegenen Anforderungen, sodass das Wissen aus der Sekundarschule oft nicht genügt. Hingegen gibt es keine stichhaltigen Indizien dafür, dass die Kompetenzen der Schulabgänger in den letzten Jahren generell gesunken sind.

Gleichzeitig mangelt es an herausfordernden Lehrstellen für motivierte und begabte Jugendliche, vor allem in den wachstumsstarken Dienstleistungen (IT. Beratung, Kommunikation), aber auch in innovativen Industrie- und Gewerbebetrieben. Dies hat schon der «Lehrstellenbericht 2009» des Kantons Zürich festgehalten. Um die knappen Stellen bewerben sich nicht selten zwanzig bis dreissig Jugendliche, oft werden Gymnasiasten durchaus leistungsstarken Sekundarschülern vorgezogen. An der kritischen Schnittstelle zwischen der Sekundarschule und der beruflichen Grundbildung treten zunehmend Bruchstellen auf. Am Eingang zur Berufsbildung hat sich darum eine «Warteschlange» gebildet, in die fast jeder dritte angehende Lehrling eintritt. Viele Jugendliche hoffen, durch ein Zusatzjahr ihre Chancen auf eine der begehrten Stellen verbessern zu können. Gleichzeitig ist das Schweizer Bildungssystem mit einer wachsenden Nachfrage nach weiterführender Allgemeinbildung konfrontiert. Dies hat zu einem Anstieg der Maturitätsquote geführt. Demografisch bedingt wird dieser Trend in den nächsten Jahren anhalten, die Mittelschulen neigen dazu, ihre bestehenden Kapazitäten aufzufüllen. Dies ist insofern nicht unproblematisch, als Studierende viel weniger als Lehrlinge auf die effektive Nachfrage nach Berufen und Qualifikationen Rücksicht nehmen müssen.

Akuter Mangel an Spezialisten

Die geringe Kostenwahrheit bei den Studiengebühren verschärft die fehlende Verzahnung mit dem Arbeitsmarkt. Der akute Mangel an Spezialisten in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik ist Beleg für diese Situation. Somit stellt sich die Frage, welche Massnahmen ergriffen werden könnten, damit das Bildungssystem mehr Höherqualifizierte in den Bereichen hervorbringt, in denen auch ein entsprechender Bedarf gegeben ist.

Eine Möglichkeit besteht darin, die Vorteile des dualen Systems auch im Hochschulsystem zum Tragen zu bringen. Das «duale Studium» bietet dazu eine attraktive Möglichkeit. Als Pilotbranchen würden sich der Finanzsektor sowie anspruchsvolle Berufe in der Industrie und der Pharmabranche eignen. Potenzial bergen auch die IT-Ausbildungen sowie Sozial- und Gesundheitsberufe. Dass damit das Profil der Fachhochschulen als praxisnahe Ausbildungsstätten geschärft werden könnte, ist gewissermassen ein willkommener Nebeneffekt. Das «duale Studium» soll in keiner Weise die traditionelle Lehre entwerten, sondern eine Alternative für jene bieten, die nach der Matura einen Berufe erlernen wollen.

Eine Lehre auf Hochschulstufe leistet der Akademisierung des Bildungssystems nicht Vorschub. Es orientiert sich an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten und verankert die Vorteile des «dualen Prinzips» in der Tertiärbildung. Eine weitere Verschulung des Bildungssystems droht vielmehr, wenn notwendige Reformen auf die lange Bank geschoben werden.

 

Dieser Artikel erschien im Tages Anzeiger vom 3.Dezember 2010