Das Interessanteste an Schaubildern sind oft nicht die grossen Trends, die sie aufzeigen, sondern die «Ausreisser». Das gilt auch für die wirtschaftspolitische Grafik dieses Monats. Sie zeigt im linken Drittel die grosse Mehrheit der Kantone, wobei nur schwer ein Muster auszumachen ist, vielleicht abgesehen von einer leichten Korrelation zwischen der Höhe der Gewinnsteuerbelastung und der Zahl der Arbeitsplätze bezogen auf die gesamte Wohnbevölkerung. All diesen Kantonen ist gemein, dass ihre Arbeitsplatzdichte irgendwo zwischen 33% und – abgesehen vom Tessin – 45% schwankt. In der rechten Hälfte der Grafik befinden sich eigentlich nur die drei Kantone Genf, Basel-Stadt und Zug; dazu kann man mit etwas Grosszügigkeit noch Zürich rechnen, das im Übergang zwischen dem grossen Haufen und den «Ausreissern» liegt. Hier beträgt die Arbeitsplatzdichte über 50%, in der Spitze sogar über 70% – und mit Ausnahme von Zug sind es Kantone mit hohen Gewinnsteuern.

Ohne den kantonalen Steuerwettbewerb hätten die Unternehmen nur wenige Gründe, Arbeitsplätze im «Hinterland» zu schaffen. | Avenir Suisse

Attraktiv trotz hoher Steuern

Wie lassen sich diese Ausreisser erklären und interpretieren? Hier kommt ein zweites Charakteristikum von Grafiken ins Spiel, vor allem von solchen, die Korrelationen zeigen: Man kann sie fast immer in zwei Richtungen lesen. Die einen werden daher in der hohen Arbeitsplatzdichte von Basel, Genf und Zürich einen Beleg dafür sehen, dass die Steuerbelastung für die Unternehmen nicht so wichtig ist, sonst müssten ja Standorte mit niedrigen Gewinnsteuern viele Unternehmen und Arbeitsplätze anziehen, nicht Hochsteuerkantone. Andere werden die Grafik aber umgekehrt deuten: Steuern sind sehr wohl ein wichtiger Standortfaktor, doch wenn andere Aspekte stark genug sind, können sie eine hohe Steuerbelastung kompensieren. Das bestätigt sich in den vier «Ausreisser»-Kantonen. Sie zählen gemäss dem von der Credit Suisse erhobenen Standortqualitätsindikator zu den fünf attraktivsten Kantonen der Schweiz (der fünfte ist der Aargau), und zwar, abgesehen von Zug, nicht wegen der Steuerbelastung, sondern wegen dem Ausbildungsstand der Bevölkerung, der Verfügbarkeit von Hochqualifizierten und der verkehrstechnischen Erschliessung.

Vor allem die letzteren beiden Aspekte sind typische Charakteristika von Metropolen. Metropolen können es sich also leisten, höhere Steuern zu verlangen, die Unternehmen kommen – zumindest bis zu einer gewissen Schwelle – trotzdem. In ländlichen und abgelegenen Kantonen ist es dagegen genau umgekehrt, sie können fast nur mit Steuern punkten. Genau darin liegt der Sinn des Steuerwettbewerbs, dass Gebiete, die von der Lage her eher benachteiligt sind, es doch mit eigener Anstrengung schaffen können, zu einem attraktiveren Investitionsstandort zu werden. Hier geht es nicht um Steuerdumping, sondern im Gegenteil um den Ausgleich «natürlicher» Nachteile. Ohne diese Möglichkeit wäre die Arbeitsplatzdichte ausserhalb der drei grossen Zentren vermutlich noch geringer, gäbe es für Unternehmen noch weniger Gründe, Arbeitsplätze im «Hinterland» zu schaffen.

Der Steuerwettbewerb spielt sich dabei, wie die Grafik zeigt, nicht einfach gleichmässig zwischen allen Kantonen ab, sondern es gibt eine Art regionale Cluster. Die Kantone der Ostschweiz, der Zentralschweiz oder der Westschweiz wirken in ihrer Steuerpolitik – immer mit Ausnahmen – relativ ähnlich, zwischen diesen Gruppen gibt es dagegen grössere Unterschiede. Damit bestätigt sich die Erkenntnis, dass die Intensität des Wettbewerbs mit Nähe zu tun hat und von daher das kleinräumige Gewebe der Schweiz, so sehr es in anderer Hinsicht Nachteile aufweisen mag, auch ein Vorteil ist.

Risikolose Steuersenkung

Hinter der Grafik steckt jedoch noch ein zweiter Aspekt – und auch ihn kann man in zwei Richtungen lesen. Im Kanton Zug ist der Ertrag aus der Unternehmensbesteuerung im Verhältnis zu den gesamten kantonalen Steuereinnahmen mit fast einem Drittel am höchsten, in Basel-Stadt mit über einem Viertel am zweithöchsten. Auch Genf und Zürich liegen bezüglich dieser Kennzahl im obersten Drittel. Im grösseren Teil der Kantone spielt die Unternehmensbesteuerung dagegen nur eine untergeordnete Rolle. In Uri etwa machen die Erträge aus der Unternehmensbesteuerung knapp 12% der gesamten Steuererträge aus und – unter anderem wegen des Finanzausgleichs – sogar nur 3,5% der gesamten Staatseinnahmen. Man kann nun in der ziemlich hohen Bedeutung der Unternehmensbesteuerung in den drei grossen Zentren einen Erfolg der hohen Gewinnbesteuerung sehen: Man hat es gewagt, die Unternehmen zu schröpfen, und das hat zusammen mit der hohen Arbeitsplatzdichte entsprechend hohe Erträge gebracht. Viel plausibler ist jedoch eine andere Lesart. Die Diskrepanz geht darauf zurück, dass es sich die einen Kantone gar nicht «leisten» könnten, die Unternehmensbesteuerung zu senken, da das bei ihnen ein zu grosses Loch in die Staatskasse reissen würde, zumindest in einer statischen Betrachtung. Die mehrheitlich kleineren Kantone, bei denen die Bedeutung der Unternehmenssteuern für den Staatshaushalt fast marginal ist, gehen dagegen mit einer Senkung der Steuersätze kaum ein Risiko ein. Wenn sie mit ihrer «Anlockungspolitik» nicht reüssieren, bleibt die Einbusse bei den Staatseinnahmen vernachlässigbar, wenn sie aber erfolgreich sind, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie so viel zusätzliches Steuersubstrat  anziehen, dass dies das etwas geringere Steueraufkommen bei den bereits ansässigen Firmen mehr als wettmacht.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 25. Mai 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.