Hat die Schweiz von der 2002 eingeführten und schrittweise erweiterten Personenfreizügigkeit profitiert? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Denn die wirtschaftlichen, vor allem aber die gefühlten positiven und negativen Effekte des freien Personenverkehrs sind vielschichtig und komplex. Aus ökonomischer Sicht positiv ist, dass die Zuwanderung während der turbulenten Wirtschafts- und Währungslage der letzten Jahre zur Stabilisierung der schweizerischen Konjunktur und der öffentlichen Finanzen beigetragen hat. Auch hat der freie Personenverkehr geholfen, das – zumindest in gewissen Branchen und Sektoren bestehende – strukturelle Defizit an Arbeitskräften abzutragen.

Während sich viele europäische Länder mit hohen Arbeitslosigkeitsquoten konfrontiert sehen, fehlt es im schweizerischen Arbeitsmarkt an qualifizierten Arbeitskräften. Dies dürfte der Grund sein, weshalb die Zuwanderung durch ausländische Arbeitskräfte in der Schweiz bisher kaum zu Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt geführt hat, sondern in erster Linie ergänzend wirkte. Nicht zuletzt zeigt sich dies daran, dass – entgegen der verbreiteten Befürchtung eines allgemein zunehmenden Lohndrucks – die Reallöhne in der Schweiz in den vergangenen zwei Jahrzehnten um rund 20% gestiegen sind.

Zuwanderung ist nicht für alles alleinverantwortlich

Weniger klar sind die Effekte des freien Personenverkehrs in anderen Bereichen. Bei den Sozialwerken beispielsweise hat die Zuwanderung die demografische Alterung der Schweiz verlangsamt und somit zu einer – vorläufigen – Entlastung der umlagefinanzieren Sozialversicherungen (AHV/IV/EO/EL) geführt. Gleichzeitig sind jedoch bei der Arbeitslosenversicherung (ALV) gewisse Mehrkosten entstanden. Zudem kann nicht in Abrede gestellt werden, dass die durch den freien Personenverkehr ausgelöste Zuwanderung die Problematik des «Dichtestresses» (etwa die zunehmende Aus- bzw. Überlastung der Infrastrukturen, Preissteigerungen auf den Immobilienmärkten oder die fortschreitende Zersiedlung der Landschaft) verschärft hat, auch wenn sie dafür keinesfalls alleine verantwortlich ist. So reflektieren steigende Immobilienpreise nicht einfach nur eine infolge Zuwanderung erhöhte Nachfrage nach Wohnraum, sondern zu einem guten Teil die gestiegenen Realeinkommen der Schweizerinnen und Schweizer. Staus auf den Strassen oder die Überlastung der öffentlichen Verkehrsmittel haben ihre Ursache genauso in der fehlenden Kostenwahrheit der Mobilität wie in der Zuwanderung. Auch die Zersiedlung spiegelt verschiedenste Entwicklungen, nebst der wachsenden Wohnbevölkerung etwa die stetig zunehmende Wohnfläche pro Kopf.

Viele der im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit diskutierten (positiven und negativen) Effekte werden somit nicht direkt durch diese verursacht, sondern verstärkt oder eben auch abgeschwächt. Eine objektive Gesamtbewertung der Auswirkungen des freien Personenverkehrs – gemessen in Franken und Rappen – fällt entsprechend schwer. Dies sollte jedoch kein Argument für eine Abkehr von der Personenfreizügigkeit sein; die Risiken für die Schweiz wären zu gravierend. Vielmehr sollte darüber nachgedacht werden, wie die positiven Effekte der Personenfreizügigkeit verstärkt und die negativen abgeschwächt werden könnten. Hierbei stellt der regelmässig ertönende Ruf nach einer Verschärfung der flankierenden Massnahmen keinen zufriedenstellenden Ansatz dar – zumal es sich bei den meisten Forderungen um Massnahmen handelt, welche die Flexibilität des Schweizer Arbeitsmarktes einschränken. Beunruhigend wäre vor allem eine weitere Zunahme der Gesamtarbeitsverträge, also der vertraglich verordneten Mindestlöhne. Die Aushöhlung der dezentralen Lohnbildung droht einen zentralen Standortvorteil der Schweiz zu schwächen, nämlich ihren vergleichsweise effizient funktionierenden Arbeitsmarkt.

Massnahmen zur Drosselung und Steuerung

Vielversprechender wäre es, über Massnahmen zu diskutieren, die allenfalls das Tempo der Zuwanderung drosseln und idealerweise gleichzeitig auf deren Zusammensetzung einwirken. Konkret könnte beispielsweise die – ordnungspolitisch ohnehin fragwürdige – Standortförderungs- und Ansiedlungspolitik abgeschafft oder zumindest massiv redimensioniert werden. Einen Schritt weiter gedacht könnten für schweizerische Unternehmen Anreize geschaffen werden, neue Arbeitsplätze vermehrt im (grenznahen) Ausland anzusiedeln. Auch der von Avenir Suisse kürzlich lancierte Vorschlag einer freiwilligen Abgabe für Neueinstellungen aus dem Ausland – also die Idee, gewisse Vorteile der Einstellung von Zuwanderern (z. B. keine Wehrpflicht) auszugleichen – muss in diesem Licht gesehen werden.

Dieser Artikel erschien in «Die Volkswirtschaft» vom 19. Juni 2013.