Nuklearforum Schweiz: Herr Meister, bitte erlauben Sie uns zum Einstieg einen kleinen Rückblick: In einem Gastbeitrag im Nuklearforum-Bulletin vom November 2011 haben Sie den Verdacht geäussert, dass die damals anstehenden Wahlen einen Einfluss auf den Entscheid zum Kernenergieausstieg hatten. Nun stehen wir mitten in der Legislaturperiode und das Parlament soll bald über die Botschaft des Bundesrates zur Energiestrategie 2050 beraten. Wie schätzen Sie die Haltung des aktuellen Parlaments zu diesem Massnahmenpaket ein?

Urs Meister: Ich zweifle daran, dass das Parlament den vom Bundesrat vorgelegten, sehr umfassenden Massnahmenkatalog in seiner bisherigen Form unterstützen würde. Darin enthalten sind meines Erachtens nicht nur zu viele, sondern auch zu wenig aufeinander abgestimmte Massnahmen. Vor allem aber fehlt es an einer Strategie, die den Markt und den internationalen Kontext adäquat berücksichtigt. In seiner Botschaft an das Parlament wird der Bundesrat vermutlich noch einige Anpassungen vornehmen.

In der Politik sind sowohl die Förderung erneuerbarer Energien als auch der Bau von Gaskraftwerken stark umstritten und die (neuen) Mitteparteien werden kaum eine derart teure Energieversorgung (KEV, Ausbau Wind und Solar, entsprechende Kraftwerksreserven) unterstützen. Was geschieht mit der Energiewende, wenn die vom Bundesrat vorgeschlagenen Alternativen zur Kernenergie schon im Parlament abgelehnt werden?

Es ist grundsätzlich nicht sinnvoll, wenn die Politik über die für die Stromversorgung eingesetzten Technologien entscheidet. Dies sollte vielmehr dem Markt überlassen werden. Sinnvoller wäre es, wenn das Parlament möglichst rasch die Rahmenbedingungen festlegt, etwa die weitere Marktöffnung und die Einbindung in Europa. Zudem gibt es kaum ökonomische Vorteile für die Schweiz, wenn sie bei der Umsetzung der Energiewende eine Vorreiterrolle einnimmt. Im Gegenteil: Die Kosten lassen sich reduzieren, wenn dem Prozess ausreichend Zeit eingeräumt wird. Damit verbunden ist eine grössere Offenheit für neue, attraktivere Technologien – sowohl bei erneuerbaren als auch bei fossilen oder nuklearen Energien. Zudem können aufwendige Anpassungen bei den Netzinfrastrukturen im Zuge der allgemeinen Erneuerungen erfolgen. Die derzeitige Situation am europäischen Strommarkt liesse eine solche «Eile-mit-Weile-Strategie » zu.

Die Schweiz ist beim Strom schon heute Nettoimporteurin. Die Energiestrategie 2050 könnte auf einen erhöhten Stromimport hinauslaufen. Wo und wie dieser importierte Strom produziert wird, können wir kaum beeinflussen. Macht das die Schweizer Energiewende nicht zur Alibiübung?

Im Grunde können wir dies doch schon heute nicht beeinflussen. Aufgrund der physikalischen Gesetzmässigkeiten stammt der Strom aus der Steckdose ja nicht ausschliesslich aus der Schweiz – selbst wenn ein Versorger dies garantiert oder gar zertifiziert. Stromflüsse machen ja nicht Halt vor den Landesgrenzen. Im eng vernetzten europäischen Markt konsumieren wir letztlich den europäischen Strommix. Und dieser besteht vor allem aus fossiler Energie, aber auch Kernkraft sowie einem wachsenden Anteil erneuerbarer Energien wie Wasser, Wind oder Fotovoltaik. Gerade im Stromsektor macht es daher keinen Sinn, auf nationaler Ebene besonders strikte CO2 -Reduktionsziele oder hochtrabende Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien zu formulieren.

Und gerade bezüglich CO2 -Ausstoss fällt die Schweiz weltweit ja kaum ins Gewicht. Was nützen unsere Bestrebungen, solange der Rest der Welt nicht mitmacht?

Natürlich kann die Schweiz im Alleingang keine sinnvolle Klimapolitik betreiben. Für ein globales Problem sind globale Lösungen nötig. Die Schweiz muss daher ihre Klima- und Energiepolitik in irgendeiner Form mit den internationalen Entwicklungen koordinieren. Gerade für den eng mit den Nachbarländern vernetzten Stromsektor wird der Einfluss der europäischen Klima- und Energiepolitik entscheidend sein. Europa wird etwa ab 2014 über die längerfristigen strategischen Ziele für die Zeit nach 2020 beraten. Ganz grundlegend stellt sich dabei die Frage, inwiefern die europäische Energiepolitik weiterhin durch klimapolitische Vorgaben geprägt sein wird. Dabei wird es nicht zuletzt darum gehen, welches Gewicht dem CO2 -Zertifikathandel zukommen soll und welches der Förderung erneuerbarer Energien. Das hat auch Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit des schweizerischen Kraftwerksparks – und damit auf die Definition einer sinnvollen Energie- und Klimapolitik im Inland.

Wann könnte sich Ihrer Meinung nach die Haltung des Volkes zum Bau neuer Kernkraftwerke ändern? Wenn die heute im Bau stehenden Reaktoren der neusten Generation sich bewähren, sowohl bezüglich Sicherheit als auch Wirtschaftlichkeit, könnte das zu einem Umdenken führen?

Im Bereich der Kernkraft gibt es interessante technische Entwicklungen. Ich denke an neue Reaktorsysteme der vierten Generation und kleinere, modular aufgebaute Anlagen. Solche Systeme könnten grundlegend sicherer betrieben werden als die heute in Betrieb stehenden Anlagen der dritten Generation. Aufgrund der höheren Effizienz würde ausserdem die Menge des radioaktiven Abfalls erheblich reduziert. Sollten diese Reaktoren in den nächsten Jahren tatsächlich Marktreife erlangen und in westlichen Ländern zum Einsatz kommen, dann könnte es auch in der Schweiz eine breitere Akzeptanz dafür geben. Schliesslich sind Politik und Bevölkerung in der Schweiz nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber neuen Technologien. Wann solche Systeme aber zur Verfügung stehen und wie wettbewerbsfähig sie in einem liberalisierten Markt tatsächlich sein werden, lässt sich im Moment jedoch schwer prognostizieren. Schliesslich ist auch das Spektrum der möglichen technischen Systeme im Rahmen der vierten Generation sehr breit. Umso wichtiger ist daher eine grösstmögliche Technologieoffenheit in den Rahmenbedingungen.

Welche Voraussetzungen bräuchte es im Parlament für einen «Kernkraft-Wiedereinstieg»? Könnten wirtschaftliche Überlegungen die Mitte zum Umdenken bewegen?

Wie ich bereits angetönt habe, dürfte die Akzeptanz in der Bevölkerung und der Politik vor allem dann zunehmen, wenn neue, sicherere, effizientere Anlagen zur Verfügung stehen und diese auch am Markt konkurrenzfähig sein werden. Im Moment gibt der europäische Strommarkt ohnehin keine Investitionsanreize für den Bau von neuen Anlagen der bestehenden, dritten Generation. Die betriebswirtschaftlichen Risiken einer solchen Investition wären zu gross, die Wirtschaftlichkeit wäre kaum gegeben. In diesem Kontext bräuchte es explizite Subventionen – wie dies etwa in Grossbritannien vorgesehen ist. Das ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, und politisch vermutlich auch nicht mehrheitsfähig.

Das Interesse der Stromwirtschaft am Neubau von Kernkraftwerken haben Sie als beschränkt eingeschätzt, unter anderem wegen der Investitionsrisiken aufgrund der Entwicklungen am europäischen Strommarkt. Was müsste sich in dieser Hinsicht ändern, damit die Stromwirtschaft ihre Meinung ändert?

Damit Investitionen in neue Kernkraftwerke attraktiv werden, braucht es die Erwartung mittel- bis längerfristig deutlich steigender Strompreise im Grosshandel. Dies könnte beispielsweise die Folge von weltweit steigenden Kohle- und Gaspreisen sein. Doch vor dem Hintergrund der sehr dynamischen Entwicklungen bei den unkonventionellen Ressourcen ist dies auf absehbare Zeit nicht sehr wahrscheinlich. Ein weiterer möglicher Grund für steigende Preise im Strommarkt wäre eine Art Paradigmenwechsel in der europäischen Klimapolitik. Einerseits müsste diese für die Zeit nach 2020 sehr strikte CO2 -Reduktionsziele definieren. Anderseits müssten diese Ziele viel weniger über die Subventionierung von erneuerbaren Energien, sondern in erster Linie über eine Besteuerung des CO2 -Ausstosses verfolgt werden. Dies würde auf eine höhere Gewichtung des CO2 -Zertifikatehandels in der Klimapolitik hinauslaufen.

Auch neuere Technologien stossen auf wenig bis gar keine Gegenliebe. Die Geothermie beispielsweise wird vielerorts skeptisch betrachtet, Fracking wird schon beinahe kategorisch ausgeschlossen, bevor überhaupt konkrete Projekte vorliegen. Allzu viele Optionen scheinen gar nicht zu bleiben. Was wäre denn aus Ihrer Sicht der volkswirtschaftlich optimale Strommix für die Schweiz?

Tatsächlich scheint es in der Gesellschaft eine tendenziell wachsende Risikoaversion zu geben. Auch nimmt die Akzeptanz gegenüber dem Bau neuer Infrastrukturen ab – nicht nur bei Grosskraftwerken, sondern auch bei den Übertragungsnetzen. Das mag einerseits eine Art Wohlstandseffekt sein. Anderseits dürften gerade in der kleinräumigen Schweiz auch die wachsende Bevölkerungsdichte und die knapper und teurer werdenden Landreserven eine Rolle spielen. Das sogenannte Nimby-Problem – Not In My Back Yard – hat in diesem Kontext eine besonders starke Bedeutung. Zweifellos wird daher längerfristig die politische und gesellschaftliche Akzeptanz ein immer wichtigerer Standortfaktor beim weiteren Ausbau der Stromproduktion – nicht nur bei konventionellen Anlagen, sondern auch bei erneuerbaren Energien. Dies wird auch die Relevanz und Struktur des Energiehandels zunehmend beeinflussen. Schliesslich findet nicht in jedem Land dieselbe Form von Energiewende statt. In diesem Kontext ist es weder sinnvoll noch möglich, einen «volkswirtschaftlich optimalen Strommix» quasi von oben zu definieren. Die Zusammensetzung der Stromproduktion sowie der Importe und Exporte sollte in erster Linie durch die Märkte und Preise bestimmt werden.

Wie fährt die Schweiz besser: mit einer möglichst inländischen und deshalb autarken Stromversorgung oder mit einem komplett offenen Markt und Handel mit den Nachbarstaaten?

Der internationale Handel ist grundsätzlich mit Wohlstandsgewinnen verbunden. Das gilt auch beim Strom. Schliesslich hängen die Kosten der Stromproduktion meist von standortspezifischen Faktoren ab. Bei den erneuerbaren Energien bestimmen etwa die Verfügbarkeit von Wasser, Wind oder Sonnenstunden die durchschnittlichen Kosten einer Technologie. Bei fossilen Kraftwerken sind es die Anbindung ans Gasnetz, die regionalen Gaspreise oder die Distanz zu den Kohlevorkommen – oder im Falle der Steinkohle die Distanz zu einem Meerhafen. Die Kostenunterschiede, aber auch die saisonal unterschiedliche Verfügbarkeit der Technologien machen den Handel nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern auch wichtig für die Versorgungssicherheit. Würde die schweizerische Stromversorgung vom Ausland abgeschnitten und als autarkes System betrieben, wäre sie weniger sicher und viel teurer. Beispielsweise bräuchte es enorme Reservekapazitäten, um die Schwankungen der Wasserkraft auszugleichen. Umgekehrt wurden die grossen Speicherwerke nicht in erster Linie für die inländische Versorgung, sondern für den Einsatz im internationalen Markt konstruiert. Sie sind vor allem aus ökonomischen Gründen auf den grenzüberschreitenden Handel angewiesen. Autarkie ist daher weder im Interesse der Stromverbraucher noch der -produzenten.

Wäre eine vom Ausland unabhängige Stromversorgung bei offenem Markt überhaupt möglich?

Nein. Die Schweiz war übrigens auch vor der Teilmarktöffnung vom Handel mit dem Ausland abhängig. Fallen grosse Kraftwerke etwa wegen Wartungsarbeiten längere Zeit aus oder ist die Wasserkraftproduktion aufgrund von Witterungsbedingungen und Jahreszeit besonders gering, dann ist das Land auf Importe angewiesen. In der Politik wird Unabhängigkeit häufig mit einer über das ganze Jahr ausgeglichenen Stromaussenhandelsbilanz gleichgesetzt. Das aber ist im Grunde eine willkürliche Grösse, die wenig über die tatsächliche Versorgungssicherheit sagt.

Im Zusammenhang mit Ihrer jüngsten Studie zu Ökostrom und Kapazitätsmärkten warnen Sie vor einer Energiewende im Alleingang. Wo sehen Sie die gravierendsten Folgen für die Schweiz, wenn nur wir und Deutschland die aktuellen Pläne umsetzen?

Die Schweiz kann grundsätzlich keine sinnvolle Energieversorgungsstrategie definieren, ohne dabei die internationalen Marktentwicklungen zu berücksichtigen. Im Falle der Förderung der erneuerbaren Energien sollte man keinesfalls die Strategien der Nachbarn kopieren. Sollte vor allem die Fotovoltaik vom Ausbau der kostendeckenden Einspeisevergütung profitieren, werden wir vor allem dann Ökostrom produzieren, wenn dies andere Länder auch tun. Dann trifft die höhere inländische Produktion auf grosse Exporte der Nachbarn und damit tiefe Preise. Der so geförderte Strom hätte kaum einen Wert. Im Falle der Kapazitätsmärkte – also Mechanismen, die eine blosse Bereitstellung von konventionellen Kraftwerkskapazitäten abgelten – braucht es eine enge grenzüberschreitende Koordination. Gerade in einem kleinen Land wie der Schweiz mit hohem Anteil an internationalem Handel wäre die einseitige Einführung eines solchen Mechanismus nicht effektiv und zudem teuer für die Verbraucher. Umgekehrt ist es für die Schweiz schwierig, bei einer allfälligen Einführung in den Nachbarländern abseitszustehen. Investitionen in konventionelle inländische Kraftwerke würden noch unattraktiver – längerfristig könnte damit die Versorgungsstabilität gefährdet sein.

In der Studie schreiben Sie: «Die wachsende Stromproduktion aus Wind und Fotovoltaik verdrängt immer häufiger konventionelle Kraftwerke aus dem Markt», wobei konventionell auch Kernkraftwerke umfasst. Kann der unregelmässig anfallende Strom aus Windkraft und Fotovoltaik wirklich Kernkraftwerke als Bandenergie- Lieferanten verdrängen?

Schon heute gibt es in Deutschland immer häufiger Situationen, in denen die erneuerbaren Energien während kurzer Zeit praktisch den gesamten Verbrauch decken. Die Verdrängung der konventionellen Anlagen aus dem Markt ist nicht bloss eine Folge des gesetzlichen Einspeisevorrangs für die erneuerbaren Energien, sondern vor allem der Tatsache, dass Technologien wie Wind und Fotovoltaik Grenzkosten von Null aufweisen. In diesem Kontext lässt sich herkömmliche Bandenergie immer schwieriger vermarkten. Zudem nimmt die wirtschaftliche Attraktivität von Anlagen mit hohen Fixkosten tendenziell ab – das gilt vor allem für die Kern- und Wasserkraft. Sie sind aus ökonomischen Gründen auf eine hohe Auslastung angewiesen. Konventionelle Technologien mit tiefen Investitionskosten aber einem relativ hohen Anteil variabler Kosten lassen sich in einem Markt mit hohem Anteil fluktuierender Energie eher wirtschaftlich betreiben – jedenfalls wenn kurzzeitig hohe Knappheitspreise am Markt möglich sind.

Wenn davon auch die Schweizer Wasserkraftwerke bedroht sind und Gaskraftwerke – aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen – nicht gebaut werden, woher soll dann unser Grundlaststrom kommen?

Die Schweiz wird mit hoher Wahrscheinlichkeit einen wachsenden Anteil ihres Grundlastbedarfs über höhere Importe decken. Diese Entwicklung ist im Grunde nicht neu – auch die Investitionen der Schweizer Verbundunternehmen in französische Kernkraftwerke waren eine Importstrategie. Umgekehrt wird mit dem bereits eingeleiteten Ausbau der Pumpspeicherwerke in der Schweiz auch der Handel mit Spitzenlaststrom zunehmen. Das bedeutet, dass der internationale Markt für die Schweiz in jedem Fall wichtiger wird – sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus versorgungstechnischen Gründen. Längerfristig stellt sich die Frage, ob der Markt überhaupt noch derart scharf in Grund- und Spitzenlast geteilt werden kann. Kurzfristige Preisbewegungen, flexible Produktion und Verbrauch werden eine immer wichtigere Rolle spielen. Die Produkte an den Strombörsen werden dadurch neu definiert.

Bei Kapazitätsmechanismen im Bereich der Elektrizität erhalten Stromproduzenten Geld dafür, dass sie steuerbare Produktionskapazitäten bereithalten – also eigentlich für nichts oder jedenfalls für nicht viel. Der Gegenwert besteht in der Gewährleistung der Stromversorgung. Woher aber stammt das Geld für diese Abgeltung?

Ganz so einfach ist es nicht. Ein adäquat ausgestalteter Kapazitätsmarkt führt im Grunde zu einem etwa gleichen Marktergebnis wie ein funktionierender «Energy-only-Markt». Nun allerdings stammen die Erträge der Kraftwerke aus zwei Marktsegmenten. Die Einführung des Kapazitätsmechanismus schafft eine zusätzliche Ertragsmöglichkeit und erhöht die Investitionssicherheit von konventionellen Anlagen. Umgekehrt reduziert der Kapazitätsmechanismus die Ertragsmöglichkeiten auf dem herkömmlichen Energiemarkt, wo Strom in Megawattstunden gehandelt wird. Die Konsumenten profitieren von der höheren Versorgungsstabilität und der Verhinderung von besonders hohen, kurzzeitigen Preisausschlägen (Knappheitspreisen) auf dem Energiemarkt, zahlen umgekehrt aber für die Finanzierung des Mechanismus über einen Aufschlag auf dem Netz- oder Energietarif. Das jedenfalls ist die Theorie. In der praktischen Umsetzung wurden Kapazitätsmechanismen häufig unvollständig und selektiv angewendet, sodass zusätzliche Verzerrungen bei den Investitions- und Produktionsanreizen entstanden. Ausserdem reduzieren die Mechanismen tendenziell die Anreize, in Speicher oder die Flexibilisierung des Konsums zu investieren. Ihre Einführung ist daher nicht unproblematisch.

In Italien gibt es heute schon Kapazitätsmechanismen, Deutschland, Frankreich und weitere EU-Länder denken über eine Einführung nach. Was bedeutet das für die Schweiz? Müssen wir mitziehen?

Für die Schweiz besteht kein unmittelbarer Handlungsbedarf. Im Moment gibt es sowohl in der Schweiz als auch in Europa ausreichend Kraftwerkskapazitäten. In diesem Umfeld werden sinnvoll ausgestaltete Kapazitätsmechanismen ohnehin kaum Wirkung entfalten. Solange es ausreichend konventionelle Kapazitäten gibt, entsteht auch kein Preis für die blosse Bereitstellung von Kraftwerken. Mittel- bis längerfristig könnte sich dies ändern, etwa wenn weitere Kernkraftwerke oder ältere fossile Anlagen vom Netz genommen werden und wenn die Konjunktur in Europa wieder anzieht. Die Notwendigkeit und damit auch die Wirkung von Kapazitätsmechanismen könnte ab 2020 zunehmen. Davon wäre auch die Schweiz betroffen. Denn die Kombination solcher Mechanismen mit der Förderung von erneuerbaren Energien reduzieren im Durchschnitt die Energiepreise im europäischen Grosshandel. Würde die Schweiz bei den Kapazitätsmechanismen abseits stehen, besteht längerfristig eine Gefahr für die Versorgungsstabilität. Weil die Schweiz üblicherweise das Grosshandelspreisniveau der Nachbarländer «importiert», würden Investitionen in neue konventionelle Kraftwerke im Inland relativ unattraktiv.

Können Kapazitätsmärkte im benachbarten Ausland nicht eine Einnahmequelle für die konventionellen Kraftwerke der Schweiz sein, zum Beispiel wenn unsere Kernkraftwerke Reserve- oder Regelleistung nach Deutschland verkaufen? Was wären die Vor- und Nachteile einer solchen Strategie?

Kapazitätsmärkte dürfen nicht mit dem Markt für Reserve- oder Regelleistung verwechselt werden. Sie dienen nicht der kurzfristigen Systemstabilität, sondern schaffen längerfristige Investitionsanreize. Grundsätzlich ist es möglich, dass Kapazitätsmärkte in gewissem Umfang grenzüberschreitend ausgestaltet werden. Die höhere Liquidität eines internationalen Marktes stimuliert auch den Wettbewerb auf dem Kapazitätsmarkt. Ob eine Teilnahme von Schweizer Kraftwerksbetreibern an ausländischen Kapazitätsmechanismen ein bilaterales Energieabkommen voraussetzt, lässt sich heute noch nicht sagen. Eine gewisse Gefahr für die schweizerische Versorgungsstabilität könnte womöglich resultieren, wenn etwa die Betreiber von Speicherwerken in der Schweiz aufgrund ihrer Teilnahme an ausländischen Kapazitätsmärkten ihre Verfügbarkeit in erster Linie an den Bedürfnissen der Nachbarländer ausrichten würden.

Sie fordern bei der Energieversorgung mehr Markt und weniger Regulierung. Wäre in dieser Hinsicht ein Alleingang der Schweiz nicht ebenso riskant? Was passiert, wenn die Schweizer Politik sich zurückhält und den Markt komplett sich selbst überlässt, das im Ausland jedoch nicht geschieht?

Der Strommarkt wird auch künftig nicht ohne Regulierung auskommen. Die Frage ist vielmehr, welche Regulierung in welchen Bereichen tatsächlich nötig ist. Der Schweizer Strommarkt ist heute beispielsweise durch eine unvollständige Marktöffnung mit einer verzerrenden Preisregulierung in der Grundversorgung, einer ineffizienten, kostenbasierten Netzregulierung, einer relativ moderaten, aber ineffizienten Förderung von erneuerbaren Energien und einer Übervertretung von staatlichen Akteuren charakterisiert. Gerade für ein kleines, besonders eng in den internationalen Stromhandel eingebettetes Land wie die Schweiz ist es sinnvoll, die Rahmenbedingungen stärker an den Marktkräften auszurichten. Denn die Regulierung von Preisen oder die Beeinflussung der Struktur des Kraftwerksparks ist in diesem Kontext besonders ineffizient. Beispielsweise sind Preisregulierungen häufig eine Grundlage für marktverzerrende Arbitrage-Strategien von Händlern, Produzenten oder auch Verbrauchern. Das Beispiel Kalifornien illustriert die Gefahren, die damit verbunden sind.

Die Lektüre Ihrer Publikationen lässt durchblicken, dass Sie kein Anhänger langfristiger Prognosen sind. Wir erlauben uns zum Abschluss trotzdem eine zukunftsgerichtete Frage: Wird es in der Schweiz je wieder möglich sein, neue Kernkraftwerke zu bauen?

Gerade im Bereich der Energie, wo die Unsicherheiten über die technologischen Entwicklungen und den regulatorischen Rahmen hinsichtlich der Marktmodelle oder der Klimapolitik sehr gross sind, ist der Nutzen besonders langfristiger Prognosen meines Erachtens beschränkt. Das illustrieren etwa die Diskussionen um die «Grenzen des Wachstums» und die Ressourcenknappheit in den frühen 1970er-Jahren. Ganz offensichtlich hatte man den Einfluss des technischen Fortschritts etwa im Hinblick auf die Fördermöglichkeiten unterschätzt. Aktuell wird der weltweite Energiesektor massgeblich durch die Entwicklungen bei den unkonventionellen Ressourcen verändert – eine Entwicklung, die kaum vorauszusehen war. Neue, technisch und ökonomisch interessante Technologien könnten sich auch in der Kernenergie etablieren – ich habe kleine modulare Systeme und die vierte Kraftwerksgeneration bereits angesprochen. Ich würde daher nicht ausschliessen, dass irgendwann in der Schweiz wieder neue Kernkraftwerke gebaut werden. Politische Entscheide sind schliesslich nicht für die Ewigkeit gemacht – schon gar nicht in der Energiepolitik.

Dieser Artikel erschien im Magazin «Nuklearforum Schweiz» vom 27.06.2013