Von Wirtschaftswachstum spricht man, wenn der Wert aller in einer Volkswirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen von einer Periode zur nächsten steigt. Die ökonomische Wachstumstheorie beschäftigt sich mit diesen Veränderungen allerdings nur in einer langfristigen Perspektive. Üblicherweise wird als Mass die jährliche reale Veränderung des Bruttoinlandproduktes (BIP) verwendet. Um einiges aussagekräftiger ist jedoch die Veränderung des BIP pro Kopf, weil sie zeigt, ob der Wohlstand gestiegen ist, ob also ein durchschnittliches Individuum im Beobachtungszeitraum mehr oder weniger erwirtschaften konnte als in der Vergleichsperiode. Zwar ist das BIP pro Kopf kein perfektes Wohlstandsmass, weil es viele monetär nicht bzw. nur schwer erfassbare Aspekte nicht umfasst und somit das, was man gemeinhin als Lebensqualität bezeichnet, nur ungenügend abbildet. Auch fliessen in die BIP- und somit in die BIP-pro-Kopf-Berechnung Aktivitäten ein, die man kaum  als wohlstandsmehrend empfinden wird (wie Aufräumarbeiten nach einer Naturkatastrophe), während umgekehrt gewisse wohlfahrtssteigernde Tätigkeiten wie Hausarbeit statistisch nicht erfasst werden. Trotzdem erlaubt das BIP als Wohlstandsmass halbwegs brauchbare internationale und historische Vergleiche, und es bleibt die beste verfügbare Annäherung an die Erfassung des Wohlergehens von Menschen.

Warum aber müssen und sollen denn Volkswirtschaften immer weiter wachsen? Diese Frage stellen sich nicht zuletzt Menschen, denen es in verschiedenerlei Hinsicht relativ gut geht, sowohl im Vergleich zu ihren Vorfahren als auch im Vergleich mit dem Rest der Welt, die einer – an sich sympathischen – Genügsamkeit huldigen, aber die dies eben gleichwohl auf hohem Niveau und zudem oftmals mit dem beruhigenden Wissen um Vermögen oder Erbschaften im Hintergrund tun. Das zentrale Argument für Wachstum lautet, dass Wirtschaftswachstum gewissermassen ein natürliches Phänomen ist, eine anthropologische Konstante, die dem Streben der Menschen nach mehr vom Gleichen und nach immer Neuem (der Gier und der Neu-Gier) entspringt. Viele ältere Menschen haben ja Zeiten erlebt, die sie sich trotz mancher Beschwörung der Genügsamkeit dennoch nicht zurückwünschen würden, Zeiten ohne Farbfernseher und Handy, Zeiten, in denen Flugreisen oder Geschirrspülmaschinen ein Luxus für wenige waren, und Zeiten, in denen es für viele Krankheiten noch keine Behandlungen gab und Empfängnisverhütung ein Vabanque-Spiel war. Die Beispiele sollen verdeutlichen, dass der langfristig wichtigste Wachstumstreiber der technische Fortschritt ist und dass eine Null-Wachstumsgesellschaft nur schon deshalb realitätsfremd ist, weil sich technischer Fortschritt – wie die Geschichte zeigt – nicht unterbinden lässt. Und technischer Fortschritt, der sich allein in qualitativem Wachstum niederschlägt, muss eine romantische Illusion bleiben.

Der Fortschritt bringt in der Regel nicht nur Neuerungen und Verbesserungen, sondern er ist oft mit Produktivitätssteigerungen verbunden. Diese lassen sich nicht einfach mittels allgemeiner Arbeitszeitverkürzungen an alle Beschäftigten weitergeben, weil es auf dem Arbeitsmarkt spezifische Qualifikationen braucht und entsprechende Engpässe gibt. Hingegen kommen die Produktivitätssteigerungen in Form von Preissenkungen (und höheren Margen) der produzierten Güter und Dienstleistungen der Allgemeinheit zugute. Die Konsumenten können sich mehr leisten, die Unternehmer können mehr investieren, was neue Arbeitsplätze schafft. In diesem Sinne ist ein gut funktionierender Arbeitsmarkt, der möglichst wenig durch staatliche Interventionen eingeschränkt wird, zentral, um die positiven Seiten des Wachstums möglichst breit zu streuen.

Wachstum ist indessen auch ein wichtiger Faktor, um die langfristigen Versprechen und Verpflichtungen einer Gesellschaft zu sichern. In einer wirtschaftlich stagnierenden Gesellschaft wird es praktisch unmöglich, zukünftige Renten zu sichern, denn jeder wirtschaftliche Rückschlag, komme er von den Märkten oder der Demographie, schlägt unmittelbar auf jene durch, die nicht mehr produktiv am wirtschaftlichen Prozess teilhaben. Da alle westlichen Gesellschaften ihren Sozialstaat zum Teil auf Kosten der künftigen Generationen auf- und ausgebaut haben, ist Wirtschaftswachstum die einzige Möglichkeit, sich aus dieser Schuld gegenüber den künftigen Generationen zu befreien. Will die Schweiz ihren – relativ gleichmässig verteilten – Wohlstand nur schon halten, tut sie gut daran, sich wirtschaftlichem Wachstum nicht zu verschliessen.

Wachstum ist nicht nur eng mit Fortschritt und Wohlstandssicherung verknüpft, es ist auch gesellschaftspolitisch von grosser Bedeutung. Während in einer stagnierenden Gesellschaft fast unweigerlich ressourcenvernichtende Verteilungskämpfe aufbrechen, bei denen alles, was den einen gegeben wird, anderen weggenommen werden muss, erlaubt Wirtschaftswachstum Verschiebungen in der Verteilung, die praktisch unbemerkt vor sich gehen. Umverteilung unter Wachstumsbedingungen bedeutet, dass es allen besser geht, aber manchmal den einen etwas mehr als den anderen.

Staatliche Politik sollte hingegen alles vermeiden, was Wachstum künstlich anheizt, weil solches Wachstum niemals nachhaltig sein kann. Wenn immer der Staat durch Subventionen und andere Interventionen die Preissignale auf den Märkten verzerrt, führt dies früher oder später zur Übernutzung von Gütern, Dienstleistungen und Ressourcen – also zu Verschwendung. Die langfristig beste Wachstumspolitik ist also die Beseitigung aller das Wachstum und das Unternehmertum behindernder Regulierungen, unter gleichzeitiger Aufhebung aller spezifischen, auf einzelne Regionen, Märkte, Produkte, Produktionsprozesse und Unternehmen fokussierten Förderung. Damit würde Wachstum tatsächlich zu jenem natürlichen, dem Menschen entsprechenden Phänomen, von dem wir zu Beginn gesprochen haben.

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 22. Juli 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.