Rolf Marti: Im Sport gilt «never change a winning team». Das Schweizer Bildungssystem ist ein Erfolgsmodell, wie die tiefe Jugendarbeitslosenquote zeigt. Trotzdem rütteln Sie am System und schlagen mit dem dualen Studium ein neues Bildungsgefäss vor. Warum?

Patrik Schellenbauer: Verglichen mit Südeuropa ist das Schweizer Bildungssystem tatsächlich sehr erfolgreich. Die Berufslehre ist marktorientiert und integrativ. Selbstgefälligkeit wäre aber fehl am Platz – auch wir haben Probleme. So finden Anbieter anspruchsvoller Industrie- und Dienstleistungsberufe nicht mehr genügend Lernende, die das Anforderungsprofil erfüllen.

Woran liegt das? Gehen die starken Schüler/-innen lieber ins Gymnasium?

Das wird oft behauptet, ist aber falsch. Die Maturaquote der Männer stagniert. Vielmehr sind die wissens- und technologiebasierten Berufe anspruchsvoller geworden. Sie haben sich vom Kompetenzniveau entfernt, das man von Volkschulabgänger/-innen erwarten kann.

Deshalb wollen Sie diese Berufsausbildungen auf Tertiärstufe ansiedeln.

Es wird den klassischen Polymechaniker weiterhin geben, daneben sollten wir aber auch angewandte Ingenieure im Rahmen eines dualen Studiums ausbilden. In Deutschland wird das seit vierzig Jahren erfolgreich praktiziert.

Wie funktioniert dieses Modell?

Das duale Studium ist eine auf Tertiärstufe angesiedelte Lehre, dauert idealerweise drei Jahre und schliesst mit einem Bachelor ab. Die Lernenden arbeiten wie in der beruflichen Grundbildung in einem Lehrbetrieb und besuchen parallel dazu die Fachhochschule. Sie sehen: Wir rütteln nicht am dualen System, sondern übertragen die Stärken der Berufslehre auf die Hochschulstufe. Zu diesen Stärken zählt die Steuerung über den Markt: Die Betriebe entscheiden, welche Ausbildungen sie anbieten und mit wem sie eine Lehrstelle besetzen. Ein weiterer Vorteil: Die berufspraktischen Kompetenzen werden im Betrieb vermittelt. Darin unterscheidet sich der duale Student vom Werkstudenten. Für letzteren ist die Arbeit meist ein Broterwerb, für ersteren Teil der Ausbildung.

Welche Zielgruppen wollen Sie ansprechen?

Als primäre Zielgruppe sehen wir Gymnasiast/-innen, die nach der Matura eine praxisorientierte Ausbildung anstreben. Bereits heute zieht es viele Gymnasiast/-innen an die Fachhochschulen. Sie müssen vor dem Studium ein Praktikumsjahr absolvieren, das oft wenig mit der gewählten Studienrichtung zu tun hat und den Bildungsweg unnötig verlängert – eine Alibiübung. Als zweite Zielgruppe sehen wir Berufsmaturand/-innen, welche den ihnen vertrauten dualen Weg auch auf tertiärer Stufe beschreiten wollen.

Was sagt die Wirtschaft zur Ihrer Idee? Ist sie bereit, entsprechende Lehrstellen anzubieten?

Nach anfänglicher Zurückhaltung stellen wir einen Stimmungsumschwung fest. Interesse zeigen insbesondere Branchen, welche Ausbildungen in MINT-Berufen (MINT = Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) anbieten. Potenzial sehen wir auch im Pflegebereich oder im Finanzsektor. Die Banken bieten heute viel weniger KV-Lehrstellen an als noch vor fünfzehn Jahren. Stattdessen bilden sie in Trainee-Programmen Gymnasiast/-innen aus. Faktisch existiert das duale Studium also schon.

Und wie reagieren die Fachhochschulen?

Es gibt unterschiedliche Signale. Klar ist: Das duale Studium würde die Fachhochschulen wieder näher zu ihrem ursprünglichen Auftrag führen. Und der lautet: praxisorientierte Studiengänge anbieten. Heute findet eine schleichende Akademisierung statt, der Praxisanteil sinkt, die Fachhochschulen eifern zu sehr den Universitäten nach.

Viele Vertreter/-innen der Berufsbildung sind skeptisch gegenüber dem dualen Studium. Sie wollen lieber die Höhere Berufsbildung stärken.

Die Höhere Berufsbildung – beispielsweise die Fachprüfung Marketingplaner/-in – richtet sich an gestandene Berufsleute, die sich spezialisieren wollen. Sie hat eher den Charakter einer Weiterbildung. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Höheren Fachschulen auf den Zug aufspringen. Ansätze dazu existieren in der Pflege.

Wann startet in der Schweiz der erste duale Studiengang? Welche Branche macht mit welcher Fachhochschule den ersten Schritt?

Letzteres verrate ich nicht (lacht). Aber in zwei Jahren werden wir hoffentlich erste Angebote haben.

Dieses Interview erschien in der «Berner Zeitung» vom 20. Juli 2013.
Mit freundlicher Genehmigung der «Berner Zeitung».