Alan Cassidy: Herr Schwarz, dank der Zuwanderung gehe es der Schweiz gut, sagen Bund und Wirtschaft. Und doch ist das Unbehagen gross. Warum?

Gerhard Schwarz: Die Zuwanderung erfolgt regional sehr unterschiedlich, und in den Hotspots spürt man die unvermeidlichen und die durch eine falsche Politik hervorgerufenen negativen Effekte stärker als anderswo. In Zentren wie Zürich und Genf ist ein Gefühl von Dichtestress entstanden. Für viele dieser Effekte ist aber nicht die Zuwanderung per se verantwortlich, sondern die hiesige Politik. Mieten und Wohnungspreise etwa würden in den grossen Zentren nicht so stark steigen, wenn man Bauordnungen hätte, die eine dichtere Bebauung zuliessen.

Mit weniger Zuwanderung wären die Probleme aber weniger drängend.

Ja, aber wir gingen auch der Vorteile verlustig. Viele Menschen sind sich zu wenig bewusst, dass ihr Wohlergehen von einem offenen Arbeitsmarkt und offenen Grenzen abhängt. Sie sind sich nicht bewusst, dass sie ihren Arbeitsplatz vielleicht gar nicht hätten, wenn in der gleichen Firma nicht auch der Informatikingenieur aus Deutschland arbeiten würde. Sie finden nur im Bus keinen Sitzplatz und hören links und rechts, wie ausländisch geplaudert wird.

Spüren sie nicht vielmehr den Druck auf dem Arbeitsmarkt, der heute viel mehr Leute betrifft als früher?

Die neue Zuwanderung der vergangenen Jahre hat einen gewissen Konkurrenzdruck ausgelöst, ja. Wir wissen, dass das durchschnittliche Ausbildungsniveau der derzeit zuwandernden Ausländer höher ist als jenes der inländischen Wohnbevölkerung. Heute sind deshalb auch Leute persönlich von der Zuwanderung betroffen, die sich früher nie Gedanken darüber gemacht haben. Plötzlich ist der Chef Ausländer, oder man bekommt den Eindruck, ein Ausländer schnappe einem die Chef-Stelle weg und blockiere die Karriere. Das führt zu einer völlig anderen Zuwanderungsdebatte als zur Zeit der Schwarzenbach-Initiativen.

Als Wirtschaftsliberaler müssten Sie diesen Wettbewerb begrüssen.

Diese Rechnung ist nicht ganz so einfach. Leider haben die flankierenden Massnahmen den Wettbewerb, den die Personenfreizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt ausgelöst hat, gleichzeitig wieder stark eingeschränkt. Und wir verfügen mit den älteren Arbeitnehmern und den Frauen über ein Potenzial an inländischen Arbeitskräften, das wir nicht genügend ausschöpfen – zum Teil auch, weil der Zugang zu Ausländern vielleicht gar zu einfach geworden ist. Man nimmt als Arbeitgeber für die gleiche Stelle lieber den jungen Bewerber aus Deutschland. Ob das volkswirtschaftlich wirklich immer sinnvoll ist, muss man sich fragen. Und dann gibt es gewisse Wettbewerbsnachteile, die wir uns selbst auferlegen, etwa die Militärpflicht für Schweizer Männer, die staatspolitisch durchaus sinnvoll ist, aber die auf dem Arbeitsmarkt zu ungleichen Spiessen führt.

Wie viel spürt die Mittelschicht von der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt?

Gerade sie spürt die Konkurrenz durch ausländische Fachkräfte. Die Berufslehre – einer der Erfolgsfaktoren der Schweiz – ist heute kein Freipass mehr für die Teilhabe an dieser Mittelschicht. Wir haben zunehmend internationale Unternehmen und Führungskräfte, die gar nicht richtig wissen, was eine Lehre ist. Sie kennen nur die stark akademisierten Bildungslandschaften im Ausland. Daraus resultiert eine falsche Titelgläubigkeit, die hiesige Lehrabgänger unter Druck setzt. An der Akzeptanz, aber auch an der Weiterentwicklung der Lehre müssen wir arbeiten.

Früher hatte es Gewicht, wenn die Wirtschaft sagte, sie sei auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Heute ist das Vertrauen in ihre Exponenten geschrumpft.

Es hat im vergangenen Jahrzehnt eine Entfremdung der Bevölkerung gegenüber den Führungskräften der Wirtschaft stattgefunden – auch, weil dort viele Fehler gemacht wurden. Das macht es nun für Rattenfänger wohl leichter, die Leute auf ihre Seite zu ziehen. Unternehmer und vor allem Manager müssen daher nun daran arbeiten, dass man ihnen wieder glaubt, wenn sie auf den positiven Saldo der Zuwanderung verweisen. Das sollte aber nicht auf unkritische Hymnen hinauslaufen, die jeden negativen Effekt leugnen. Man kann jetzt nicht so tun, als habe die Zuwanderung nur Vorteile und ein Paradies geschaffen.

Wären wir ohne Personenfreizügigkeit träge?

Ich gehöre nicht zu denen, die jede kritische Auseinandersetzung mit der Zuwanderung als fremdenfeindlich abtun. Sie hat ihre sozialen und wirtschaftlichen Kosten. Aber der Nutzen überwiegt. Zuwanderer stopfen Lücken und beseitigen Engpässe, sie erledigen auch Arbeiten, für die sich kaum Schweizer und Schweizerinnen finden. Vor allem aber bringen sie Innovation und Fortschritt in unser Land. Dieser Effekt der Zuwanderung wird viel zu wenig gesehen und gewürdigt. Und deshalb wären wir ohne Migration nicht nur weniger wohlhabend, sondern auch träger und weniger innovativ.

Dieses Interview erschien am 5. Januar 2014 in der «Schweiz am Sonntag».
Mit freundlicher Genehmigung der «Schweiz am Sonntag».