Stimmverhalten und Zuwanderung nach Kantonen

Die Schlacht um die Personenfreizügigkeit ist geschlagen, der Pulverdampf der Emotionen und Argumente lichtet sich langsam. Die Schweiz wird zu einem Kontingent-System der Zuwanderung zurückkehren, von dem heute noch niemand weiss, wie es aussehen wird und zu welchem Preis die Europäische Union dafür Hand bieten wird. Erste Analysen der Abstimmungsresultate zeigen einen tiefen «Röstigraben», überlagert von einem scharfen Stadt-Land-Gegensatz. Dieses Muster kennt man aus fast allen Abstimmungen, die die Aussenbeziehungen der Schweiz betreffen. Doch was genau steckt dahinter?

Im Abstimmungskampf war oft von «Dichtestress» die Rede. Für die einen stand dieses Bild in der Tradition früherer Überfüllungs-Metaphern, für die anderen brachte es schlicht die Kehrseite der Personenfreizügigkeit zum Ausdruck: steigende Wohnkosten, Landverbrauch, Staus, überfüllte Züge, Überbeanspruchung der Infrastruktur. Auch wenn diese Probleme oft übertrieben dargestellt wurden und nur teilweise der Zuwanderung anzulasten sind (sondern ebenso hausgemacht sind), steht ausser Frage, dass die Personenfreizügigkeit nicht gratis zu haben war und ist. Darauf hat Avenir Suisse wiederholt hingewiesen, allerdings den Saldo von Nutzen und Kosten der Personenfreizügigkeit stets positiv beurteilt. Sehen wir nun das Ergebnis vieler solcher Kosten-Nutzen-Rechnungen, die angesichts zunehmenden «Dichtestresses» ins Negative kippten? Scheiterte die Personenfreizügigkeit also an einer einseitigen Verteilung ihrer Vor- und Nachteile?

Eine vorläufige Analyse auf der Ebene der Kantone lässt an einer solchen Interpretation zweifeln. Auf der horizontalen Achse der Grafik ist der relative Wanderungssaldo der Kantone für die Periode 2006 – 2012 in Promillen abgetragen.  So wuchs der Kanton Appenzell Innerrhoden in diesen Jahren pro 1000 Einwohner um netto 25 Zuzüger aus dem Ausland (=Zuzüge minus Wegzüge), der Kanton Genf hingegen um 113.  Auf der vertikalen Achse ist die Zustimmung zur Initiative gegen die Masseneinwanderung ersichtlich. Der entstehende Zusammenhang ist deutlich negativ: das heisst, Kantone mit tiefem Wanderungssaldo haben sich eher für die Initiative ausgesprochen, Kantone mit hohem Saldo mehrheitlich dagegen. Das zeigt der signifikante Korrelationskoeffizient von -0,58 sehr deutlich. Kantone als Untersuchungseinheit mögen zu grob sein, der Zusammenhang ist deshalb sicher etwas unscharf. Doch auch innerhalb der Kantone zeigt sich das dasselbe Bild. Gebiete im Brennpunkt des Zuwanderungsdrucks (grosse Städte, bevorzugte Wohnlagen) haben die Initiative abgelehnt, die anderen Gebiete haben sie – teilweise sehr deutlich – angenommen. Mit anderen Worten: Das Ende der Personenfreizügigkeit wurde da herbeigeführt, wo kein «Dichtestress» – und auch kein Lohndruck – entstand, weil die Zuwanderung bescheiden war.

Das Abstimmungsergebnis dürfte darum eher mit Unmut, Verunsicherung und diffusen Abstiegsängsten zu erklären sein, vor allem im breiten Mittelstand, der sich von verschiedenen Seiten unter Druck fühlt. Diese Sorgen sind gewiss nicht aus der Luft gegriffen, wenn man zum Beispiel an das Zurückbleiben der mittleren Löhne denkt. Dies ist ein weltweites Phänomen und hat nichts mit der Personenfreizügigkeit zu tun. Im Gegenteil: Es ist gut möglich, dass der Rückgang der Nachfrage nach mittleren Qualifikationen von der Dynamik der Personenfreizügigkeit gemildert wurde. Unmut macht sich in der direkten Demokratie immer wieder Luft, üblicherweise aber in vergleichsweise nebensächlichen Angelegenheiten. Entscheide, die von grosser Tragweite für das Land sind oder das Portemonnaie direkt betreffen, werden nicht als Ventil genutzt. Das war diesmal wohl anders, denn die Dichtestress-Debatte ging am Kern vorbei.