Die Reaktionen auf die von Avenir Suisse präsentierte Idee des «Globalziels», mit dem die Schweiz die Ziele der «Masseneinwanderungsinitiative» erreichen könnte, ohne dabei die Personenfreizügigkeit mit der EU aufzugeben, waren sehr zahlreich, interessiert und überwiegend wohlwollend. Es gab allerdings auch viele Einwände. Sie halten jedoch alle einer näheren Prüfung nicht stand. Letztlich ist die Interpretation von Initiativtexten immer ein politischer Akt, der von Abstimmungssiegern wie -verlierern eine gewisse Kompromissbereitschaft fordert.

Der Vorschlag zur Güte von Avenir Suisse, der Eidgenössischen Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» gerecht zu werden, ohne in offensichtlichen Konflikt mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU zu geraten, hat ein breites, interessiertes und alles in allem wohlwollendes Echo gefunden. Da es sich aber um einen Kompromissvorschlag handelt, monieren die einen naturgemäss, dass der Vorschlag dem Verfassungstext nicht gerecht werde und dass die Initianten mithin kein Interesse an ihm haben könnten, während die anderen befürchten, er sei nicht EU-kompatibel. Beides trifft nicht zu, sofern man nicht eine völlig unflexible und fundamentalistische Position einnimmt, den Wortlaut verabsolutiert und vergisst, dass die Interpretation von Initiativtexten ein politischer Akt ist – und sein muss.

Der Vorschlag will in erster Linie der zentralen Intention der Initiative, die in ihrem Titel zum Ausdruck kommt, gerecht werden. Diese Intention besteht darin, die «Masseneinwanderung» zu verhindern, nicht die Einwanderung per se. Selbst, wenn man nicht nur dem Kernanliegen gerecht werden möchte, sondern auch den detaillierten Bestimmungen, ist es keinesfalls so klar, was die am 9. Februar geänderte Verfassung in Art. 121 bzw. Art. 121a postuliert, wie da und dort etwas vollmundig behauptet wird. Zwar kann man die neuen Verfassungsartikel so lesen, dass der Vorschlag von Avenir Suisse als Gegensatz dazu erscheint, man muss sie aber nicht so lesen. Einerseits sind bekanntlich alle Gesetzestexte interpretationsfähig und -bedürftig, und anderseits ist auch der Artikel 121a, wie viele juristische Bestimmungen, nicht frei von Widersprüchen. Was lässt sich vor diesem Hintergrund zu den verschiedenen Einwänden gegen den Avenir-Suisse-Vorschlag sagen?

Einwand 1: «Der Verfassungstext verlangt jährliche Kontingente.» – Man kann das Globalziel als Kombination von jährlichen Einzelkontingenten auffassen. Es braucht einzig Flexibilität bei kurzfristigen Über- und Unterschreitungen.

Wohl am meisten wird betont, im neuen Verfassungsartikel heisse es, die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern sei «durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente» zu begrenzen. Der Vorschlag von Avenir Suisse, ein längerfristiges Globalziel zu definieren, widerspreche dieser Jährlichkeit.

Der Text spricht allerdings nicht von «jährlich neu festgelegten» Höchstzahlen. Man könnte also «jährlich» dahingehend verstehen, dass man nicht Halbjahresziele oder Mehrjahresziele festlegen soll, sondern Jahresziele. Somit könnte man beispielsweise 2015 für fünf Folgejahre die «jährlichen Höchstzahlen» bereits festlegen und wüsste somit schon 2015, mit wie viel Netto-Neueinwanderung bis Ende 2020 maximal zu rechnen wäre, genau gleich wie beim «Globalziel» von Avenir Suisse.

Was es aber zusätzlich braucht, ist die Möglichkeit eines Übertrags von einem Jahr zum anderen: Wird in einem Jahr das anvisierte Ziel unterschritten, wird das bereits festgelegte Ziel für das Folgejahr automatisch entsprechend aufgestockt. Umgekehrt braucht es Kulanz, wenn die Nachfrage nach Aufenthaltsbewilligungen in einem Jahr das Ziel übersteigt. Sie rechtfertigt sich durch eine automatische kompensierende Reduktion des Ziels im Folgejahr. Man bewegt sich in einem solchen System immer noch in einer Welt jährlicher – wenn auch nicht jährlich neu festgelegter – Limiten, und man bewegt sich weiterhin in einer Welt von Höchstzahlen, die allerdings flexibel statt starr gehandhabt werden, in der also Abweichungen in beide Richtungen möglich sind, weil sie im Folgejahr sofort «sanktioniert» oder «honoriert» werden.

Einwand 2: «Der Verfassungstext schreibt zwingend Kontingente vor.» – Wozu vorschnelle Kontingente, wenn sich die Zuwanderung durch die richtigen Anreize auch so auf dem erwünschten Niveau bewegt? 

Zahlreiche Kommentare wenden ein, der neue Verfassungsartikel schreibe Kontingente zwingend vor und der Avenir-Suisse-Vorschlag verstosse dagegen. Der erste Absatz von Art. 121a besagt allerdings nur, dass die Schweiz die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig steuert, ohne Nennung spezifischer Instrumente. Im zweiten Absatz heisst es dann, die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen sei durch «Höchstzahlen und Kontingente» zu begrenzen. Man könnte den Avenir-Suisse-Vorschlag nun dahingehend verstehen, dass er vorsieht, die Zuwanderung mit Kontingenten zu steuern, sofern nach fünf Jahren die anvisierten Höchstzahlen überschritten sein sollten. Die Zuwanderung wird also gewissermassen zuerst durch die Drohung mit Kontingenten gesteuert – und danach tatsächlich mit Kontingenten, falls dies notwendig werden sollte.

Warum aber sollte man überhaupt mit starren und problematischen Kontingenten steuern, wenn es in dem Sinne gar nichts zu steuern gibt, als die Zuwanderung sich aufgrund anderer Faktoren auf einem erwünschten Niveau bewegt? Es wäre, wie wenn man einem Patienten fiebersenkende Mittel zwingend verabreichen wollte, obwohl das Fieber ohnehin gesunken ist. Ein Mittel einzusetzen, wenn es gar nicht nötig ist, dürfte wohl niemand ernsthaft fordern.

Einwand 3: «Grenzgänger sind ebenfalls einem Kontingentsregime zu unterwerfen.» – Die meisten Probleme, die zur Begründung der Initiative vorgebracht wurden, haben mit Grenzgängern wenig zu tun.

Viele Kommentatoren sind der Überzeugung, man müsse unbedingt auch die Zahl der Grenzgängerinnen und Grenzgänger beschränken. Tatsächlich haben in Regionen wie dem Tessin viele Stimmbürger ja zur Initiative gesagt, weil sie glaubten, damit den Zustrom von Grenzgängern eindämmen zu können. Dennoch plädiert Avenir Suisse dafür, Grenzgänger als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems zu verstehen. Es kommt nicht von ungefähr, dass das höchst zuwanderungsscheue Liechtenstein sich genau so «rettet»: mit einer rekordhohen Zahl von Grenzgängern bei gleichzeitig sehr restriktiver Zuwanderungs- sprich: Niederlassungspolitik. Der Verfassungstext (und die Abstimmungskampagne seitens der Befürworter) ist diesbezüglich widersprüchlich und lässt eine grosszügige Interpretation zu. Die Initiative richtete sich gegen «Masseneinwanderung», und der Titel des neuen Verfassungsartikels lautet «Steuerung der Zuwanderung».

Im Text selbst ist dann, etwa in Absatz 2, von «Bewilligungen für den Aufenthalt» oder vom «dauerhaften Aufenthalt» die Rede, nie von Bewilligungen für Grenzgänger. Und das leuchtet ein, denn Grenzgänger sind keine Ein- oder Zuwanderer, im Gegenteil: Sie wohnen im Ausland, sie kommen «nur» zum Arbeiten in die Schweiz, nicht, um hier zu leben. Die meisten Probleme, die zur Begründung der Initiative vorgebracht wurden, haben mit Grenzgängern wenig zu tun, die Angst vor der 10-Millionen-Schweiz, die Einwanderung in die Sozialwerke, der manchmal grosszügige Familiennachzug, die steigenden Mieten und Bodenpreise, die Zersiedelung. Einzig die Verkehrsprobleme werden durch Pendler aus dem Ausland ebenso verschärft wie durch Pendler im Inland.

Absatz 3 des Verfassungsartikels postuliert zwar, die Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer seien auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz auszurichten und daran angehängt, «die Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind einzubeziehen». Im Abstimmungskampf sprachen die Initianten aber, sofern sie Zahlen nannten, nur von einem möglichen Kontingent von mehreren Zehntausend. Sie bezogen also die in die Hunderttausende gehenden Grenzgänger nicht ein. Und von einem separaten Kontingent für Grenzgänger ist im Text nirgends die Rede.

Könnte es also nicht sein, dass «einbeziehen» hier heisst, bei der Festlegung der Höchstzahlen und Kontingente für Zuwanderer die Tatsache zu berücksichtigen, dass täglich rund 275000 Grenzgänger in die Schweiz kommen und sie am Abend wieder verlassen? Dafür spricht auch, dass es nach der Erwähnung der Grenzgänger gleich weitergeht mit «… Kriterien für die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen…».

Einwand 4: Der Vorschlag widerspricht dem Freizügigkeitsgrundsatz der EU. – Allein die Aussicht auf Kontingente als Anreizmechanismus setzt das Prinzip der Freizügigkeit nicht ausser Kraft.

Vielfach wurde behauptet, jede Drosselung der Zuwanderung widerspreche den Grundprinzipien der EU. Man muss sich allerdings fragen, ob nicht selbst so hehre Prinzipien wie das der Personenfreizügigkeit einer gewissen Situationsabhängigkeit unterworfen sind. Die Sonderregelung für Liechtenstein beweist jedenfalls, dass es Ausnahmen gibt, und mögen sie noch so sehr mit der Kleinheit des Landes (die ja am Prinzip nichts ändern sollte) oder eben mit dem hohen Ausländeranteil begründet werden. Ausserdem spricht einiges dafür, dass es aus Brüssel anders tönen würde, wenn die durchschnittliche Wanderung innerhalb und in die EU sich auf dem Niveau bewegen würde, das die Schweiz in den letzten 5 Jahren erlebt hat. Das Nicht-EU-Mitglied Schweiz hält nämlich seine Grenzen derzeit de facto (nicht de jure) etwa  dreimal so offen wie die EU.

Fürs erste sollte der Vorschlag von Avenir Suisse aber die EU eigentlich gar nicht involvieren. Die EU wird ja der Schweiz kaum verbieten wollen, ihr Wachstum etwas nachhaltiger, weniger volatil und vielleicht auch weniger schnell zu gestalten. Sie wird ihr auch kaum verbieten wollen, über den künftigen Einsatz von Massnahmen wie etwa Kontingente nachzudenken. Sie kann und wird eine solche «Drohung» künftigen Verhaltens vielleicht mit einer Gegendrohung beantworten, aber sie wird kaum schon präventiv ein Verhalten, das unter Umständen und gemäss Absicht des Vorschlags hoffentlich nie nötig sein wird, mit Gegenmassnahmen bestrafen.

Die EU wird auch den Schweizer Unternehmen kaum vorschreiben wollen, wen sie einstellen sollen und dürfen. Sie wird vermutlich von der Schweizer Politik erwarten, dass sie nicht die Anstellung von Ausländern verhindert oder behindert, aber wenn sich Schweizer Unternehmen aus (natürlich vom Abstimmungsergebnis geförderter, aber in keiner Weise staatlich geforderter) Selbstdisziplin in der Anstellung von Ausländern mehr zurückhalten als bisher, ist das ihre Sache und kaum jene der Kommission in Brüssel.

Einwand 5: «Die Ausländer-Abgabe ist nicht EU-kompatibel». – Weder Masshalten noch Selbstbindung sind in der EU verboten.

Ähnlich ist auch die von Avenir Suisse propagierte, von den Branchen organisierte und innerhalb der Branche verbindlich erklärte Abgabe oder «Spende» bei der Einstellung von Ausländerinnen und Ausländern eigentlich Privatsache. Es muss hier präzisiert werden, dass diese «Abgabe» nur auf Ausländer, die zuziehen, zu entrichten wäre, nicht auf solche, die bereits in der Schweiz leben. Dass es hier nicht um Diskriminierung geht, sondern um Selbstdisziplinierung der Arbeitgeber, sei an einem Beispiel erläutert. Es wäre durchaus vorstellbar, dass sich Unternehmen vornähmen, ihre Alterspyramide wieder stärker auf ältere Arbeitnehmer auszurichten, statt wie bisher Leute oft schon ab 55 zum alten Eisen zu werfen. Um dieses Ziel zu erreichen, könnten sie eine Fülle von betriebsinternen Massnahmen ergreifen. Sie könnten sich aber auch selbst einen Anreiz setzen und beschliessen, bei jeder Neueinstellung einer Arbeitskraft unter 40 einen Betrag in einen firmeneigenen Topf zu legen, mit dem etwa Ausbildungsmassnahmen für ältere Arbeitskräfte finanziert würden.

Im Wissen darum, dass der Geldbeutel ein wichtiges Argument ist, wird hier eine Absicht einfach durch Selbstbindung unterstützt. Alles in allem sollte weder Masshalten noch Selbstbindung in der EU verboten sein.

Einwand 6: Der Vorschlag hilft den Initianten zu sehr. – Mitnichten, aber das Anliegen der Initianten wird ernst genommen.

Es gibt eine starke Strömung in der Schweiz, die es darauf anlegt, durch eine möglichst enge Auslegung des Verfassungstextes diesen ad absurdum zu führen und scheitern zu lassen. Der Avenir-Suisse-Vorschlag ist für diese Kreise, weil er einen Kompromiss anstrebt, störend. Eine solche Taktik verrät allerdings ein bedenkliches Demokratieverständnis.

Sie kann auch sehr gefährlich sein, weil das Hinnehmen oder sogar aktive Betreiben einer harten, der Schweiz schadenden Reaktion der EU (im vermeintlich längerfristigen Interesse der Schweiz) auch scheitern kann. Denn was ist, wenn genau dies die sturen Anti-EU-Kräfte in der Schweiz stärkt? Dann erleidet die Schweiz immensen Schaden und die «Heilung» durch eine grosse Annäherung oder gar einen Beitritt kommt nicht zustande. Der Vorschlag von Avenir Suisse verlangt ja auch den Initianten Entgegenkommen und Kompromissbereitschaft ab, aber er kanzelt ihr Anliegen nicht pauschal als unmoralisch oder dumm oder beides ab.

Einwand 7: Der Vorschlag widerspricht integral den Interessen der Initianten. – Der Vorschlag von Avenir Suisse ist für alle Seiten gesichtswahrend. Kompromissbereitschaft dient am Schluss auch den Siegern.

Oft kam in den Diskussionen um den Vorschlag von Avenir Suisse die Frage auf, was denn das Interesse der Initianten an einem solchen Kompromissvorschlag sein könnte. Nun muss man sich zuerst die Frage stellen, was das Interesse der Initianten überhaupt ist. Verschiedene Interpretationen nach gehabter Schlacht lassen zum Teil vermuten, dass die Initiative eher ein trojanisches Pferd war, mit dem man das Verhältnis zur EU auf eine neue Basis stellen möchte. Nimmt man jedoch Titel, Text und Argumentation im Vorfeld der Abstimmung zum Nennwert, ging und geht es um eine Dämpfung der «Masseneinwanderung». Wenn es die Schweiz nicht schafft, eine Lösung zu entwickeln, die zumindest für die kompromissbereiteren Kräfte in der EU akzeptabel ist, ist genau dieses Ziel gefährdet.

Sollte es dann nämlich zur Kündigung mehrerer Verträge bzw. eines ganzen Vertragspakets mit der EU kommen, wäre es naheliegend, ja fast zwingend, den Souverän nochmals zu fragen, ob er bereit sei, diesen Preis für die bessere Kontrolle der Zuwanderung zu zahlen. Und die Chance wäre gross, dass ein rechter Teil jener Stimmbürger, die am 9. Februar 2014 ja gestimmt haben, weil sie ein Zeichen für mehr Kontrolle und langsameres Wachstum setzen wollten, im Angesicht konkreter Nachteile dann ganz anders stimmen würden. Und ebenso vorstellbar wäre, dass eine trotzige, unversöhnliche EU mit der Zeit jenen inländischen Kräften Auftrieb gäbe, die in die EU drängen, wenn nicht aus Begeisterung, so mindestens der Not einer gewissen Isolation gehorchend. In beiden Fällen käme es nicht zu einer stärkeren Kontrolle der Einwanderung. Und schuld wären jene, die einen Abstimmungserfolg mit zu viel Dogmatismus verspielt und letztlich ins Gegenteil verkehrt hätten.

Kompromissbereitschaft, Grosszügigkeit, Entgegenkommen und politischer Realismus dienen am Schluss auch den Siegern. Sturheit lohnt sich dagegen fast nie, sondern mündet in der Demokratie oft in einer Sackgasse. Der für alle Seiten gesichtswahrende Vorschlag von Avenir Suisse hätte das Zeug dazu, eine Dämpfung der Zuwanderung zu erreichen, ohne gleich das ganze Vertragswerk mit der EU aufs Spiel setzen zu müssen. Jene, die von ihrem Ja am 9. Februar weniger Einwanderung erhofft haben, würden von jenen verraten, die von Beginn weg anderes im Schilde geführt hatten.