4000 Franken sind nicht einfach 4000 Franken

Staatlich verordnete Mindestlöhne sind en vogue: In Deutschland hat die Regierung Ende 2013 die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns von € 8.50 beschlossen, in den USA hat Präsident Obama zu Beginn dieses Jahres den Mindestlohn per Dekret von $ 7.25 auf $ 10.10 pro Stunde erhöht, und in der Schweiz wird das Volk im Mai über die Mindestlohninitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) abstimmen. Sie fordert die Einführung eines landesweiten Mindestlohns von 22 Franken pro Stunde, was einem Monatsgehalt von 4000 Franken entspricht.

Schaden statt Schutz

Dass das Grundanliegen von Mindestlöhnen bei vielen Menschen auf Sympathie stösst, ist wenig erstaunlich. Die Forderung, dass ehrliche Arbeit ein Einkommen generieren sollte, das ein «anständiges Leben» erlaubt, scheint human und vernünftig. Vergessen geht dabei jedoch, dass ehrliche Arbeit zu solchen einkommenssichernden Bedingungen unter Umständen nicht genügend nachgefragt wird. Ausgeblendet wird, dass etwa junge Menschen, die noch bei den Eltern wohnen, andere finanzielle Bedürfnisse haben als die in der Debatte gerne bemühte alleinerziehende Mutter, und verdrängt wird, dass der systematische Ort für die Hilfe an sozial Schwache nicht der Arbeitsmarkt ist, sondern die soziale Hilfe.

Daneben stellt sich aber auch die Frage, ob das anvisierte Ziel mit Mindestlöhnen überhaupt erreicht werden kann. Die Geister dürften sich schon daran scheiden, was genau als «anständiges Leben» anzusehen ist. Löhne sind im Grundsatz Preise, die Knappheit signalisieren und Angebot und Nachfrage zusammenführen. Eine staatliche Festlegung greift in diese Funktion ein und führt meistens zu unerwünschten Nebenwirkungen, vor allem zu Arbeitslosigkeit. Zwar muss das nicht immer so sein, doch beziehen sich praktisch alle Studien, die keine oder nur geringe Beschäftigungswirkungen zeigen, auf Situationen mit tiefen Mindestlöhnen.

Die Schweiz läge dagegen, sollte die Mindestlohninitiative angenommen werden, mit 22 Fr. pro Stunde weltweit mit grossem Abstand an der Spitze. Bei dieser Höhe wären negative Beschäftigungseffekte praktisch nicht zu vermeiden. Und betroffen wären von der so geschaffenen Arbeitslosigkeit hauptsächlich jene, die man mit der Massnahme angeblich besserstellen möchte, nämlich die Niedrigqualifizierten.

Unsere wirtschaftspolitische Grafik beschäftigt sich jedoch nicht mit diesen offensichtlichen Nachteilen, sondern zeigt einen weiteren problematischen, in der Diskussion oft vergessenen Aspekt von Mindestlöhnen, nämlich, dass diese keinerlei Rücksicht auf regionale Gegebenheiten nehmen. Dabei sollte die Schweiz mit ihrer stark föderalistischen Struktur den regionalen Unterschieden besondere Beachtung schenken. 4000 Fr. pro Monat entsprechen 66,9% des schweizerischen Medianlohns – also des Lohnes, der die Löhne so unterteilt, dass die Hälfte der Löhne darüber liegt und die andere Hälfte darunter (obere Grafik). Da aber das Lohnniveau von Region zu Region stark variiert, liegt der geforderte Mindestlohn von 4000 Fr. im Grossraum Zürich lediglich bei 63% des Medianlohns. Im Tessin hingegen entsprechen 4000 Fr. fast 80% des Medianlohnes.

Eklatante Unterschiede

Die gleiche Botschaft vermittelt die untere Grafik. Sie zeigt, wie viel einer ledigen Person von einem Monatslohn von 4000 Fr. bleibt, wenn man die Miete (für eine Dreizimmerwohnung), die Einkommenssteuern sowie die obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge und Krankenkassenprämien abzieht. Im Kanton Glarus sind das 1920 Fr., in Basel-Stadt dagegen bloss 1439 Fr. Trotz vergleichbarer Wohnungsgrösse würden Mindestlohnbezüger in Glarus also rund 500 Fr. oder 35% mehr zur Verfügung haben als in Basel. Dieser Vergleich basiert auf den durchschnittlichen Mietpreisen, die vom Bundesamt für Statistik (BfS) publiziert werden. Nimmt man stattdessen Marktpreise, die zwar nur jene betreffen, die eine Wohnung suchen, die aber um einiges höher liegen, sind die Unterschiede zwischen den Regionen noch grösser. Der frei verfügbare «Restbetrag» für einen Mindestlohnbezüger in Bellinzona (1830 Fr.) läge dann rund 1200 Fr. höher als jener einer vergleichbaren Person in Genf (660 Fr.). Verschärft wird diese Ungleichbehandlung noch dadurch, dass man selbst mit dem gleichen «Restbetrag» in Genf schlechter lebte, weil auch andere Preise in grösseren Städten viel höher liegen als in kleineren.

Ein einheitlicher Mindestlohn vernachlässigt die beträchtlichen regionalen Unterschiede und läuft der föderalistisch geprägten Struktur der Schweiz zuwider. Dank dem Föderalismus werden regional unterschiedliche Bedürfnisse bestmöglich befriedigt. Das gilt auch bei der Festlegung von Mindestlöhnen.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 29. März 2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».