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Verteilungsfragen sind nicht zuletzt dank Thomas Pikettys Bestseller über das Kapital im 21. Jahrhundert en vogue. Nachdem sich aber die Begeisterung und die Aufregung etwas gelegt haben, wird zunehmend deutlich, wie sehr seine Statistiken zwar Scheinwerferkegeln gleich etwas erhellen, aber gleichzeitig notwendigerweise vieles im Dunkeln lassen, ja sogar ein falsches Bild vermitteln können. Ökonomische Daten stellen immer eine manchmal bewusste, manchmal unbewusste Auswahl dar, sie picken etwas heraus, geografisch, zeitlich, sachlich.

Mit geschärftem Blick

Das Bild, das man von solchen Scheinwerferkegeln in der Nacht erhält, ist immer ein völlig anderes als das, das man bei Tageslicht sieht, wenn der Blick weit herumschweifen und vieles auch vermeintlich Unwichtiges erkennen kann. Die wirtschaftspolitische Grafik des Monats Juni ist eine kleine Ergänzung zu und ein Perspektivenwechsel gegenüber Piketty. Sie beruht auf Untersuchungen der beiden Ökonomen Branko Milanovic und Christoph Lakner («Global Income Distribution. From the Fall of the Berlin Wall to the Great Recession»), die sie im Dezember 2013 im Rahmen eines Forschungspapiers der Weltbank veröffentlicht haben.

Die Studie nimmt, erstens, im Gegensatz zu Piketty die weltweite Einkommensverteilung ins Visier, bezieht also die in den letzten Jahren besonders dynamischen Entwicklungs- und Schwellenländer mit ein. Sie berücksichtigt, zweitens, die Bevölkerungszahl der verschiedenen Länder, räumt also China und Indien den ihnen gebührenden Platz ein. Es ist ja für die weltweite Verteilung der Einkommen tatsächlich viel relevanter, wenn die Einkommen einiger Millionen Chinesen im weltweiten Mittelstand wachsen, als wenn sich jene von einigen tausend Schweizern verändern, die in die gleiche Kategorie fallen und im Schweizer Kontext eher als arm gelten. Und die Studie konzentriert sich, drittens, auf die letzten gut zwanzig Jahre (1988 bis 2008), weil nur für sie genügend zuverlässige Daten vorhanden sind.

Weniger Armut auf der Welt

Die auf 565 Haushaltserhebungen mit Tausenden von Einzelbefragungen aus 120 Ländern basierenden Daten bilden etwa 90% der Weltbevölkerung und 95% der weltweiten Wertschöpfung (Bruttoinlandprodukt) repräsentativ ab. In der Grafik sind die weltweiten Einkommen in 5%-Schritten auf der horizontalen Achse von links nach rechts aufgereiht, von den Ärmsten zu den Reichsten. Auf der vertikalen Achse ist das prozentuale Wachstum der verschiedenen Einkommensgruppen im Untersuchungszeitraum abgetragen. Ein Lesebeispiel: Das 80. Perzentil, also jenes Prozent der Weltbevölkerung, dessen Einkommen 1988 höher lag als das von 79% der Weltbevölkerung und niedriger als jenes von 19% (die noch reicher waren), konnte sein Einkommen in den untersuchten 20 Jahren real und kaufkraftbereinigt fast nicht steigern. Was also zeigt uns die Grafik? Zunächst ist festzuhalten, dass die Kurve nirgends unter den Nullpunkt fällt. Sämtliche Einkommen sind also zwischen 1988 und 2008 gestiegen, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmass. Dank diesem Wachstum konnten sich seit 1988 weltweit Milliarden Menschen aus der Armut befreien. Die Verteilung ist sogar leicht gleichmässiger geworden, der die Ungleichheit messende Gini-Koeffizient ist von 0,72 auf 0,70 gesunken.

Natürlich sind die Einkommen einzelner Menschen gesunken, aber in jeder der Einkommensgruppen haben die Zuwächse die Rückgänge mehr als kompensiert. Trotzdem gibt es relative Gewinner und Verlierer. Diese – allerdings nur relativen – «Verlierer» finden sich, wie schon erwähnt, etwa zwischen dem 75. und dem 95. Perzentil und ganz links in der Verteilung, also bei den niedrigsten Einkommen. Die «Gewinner», das ist einerseits die Welt-Mittelschicht, deren Einkommen bis zu 75% stieg, und das sind anderseits die Spitzenverdiener, genauer: das einkommensmässig oberste eine Prozent. Es erzielte ein fast so hohes Wachstum wie die Menschen zwischen dem 40. und dem 65. Perzentil.

Gute Chancen für Dritte Welt

Nicht aus der Grafik, aber aus weiteren Daten der erwähnten Studie weiss man, dass die «Gewinner» im weltweiten Mittelstand hauptsächlich Asiaten sind, während die beim Einkommen ebenfalls stark zulegenden Spitzenverdiener vor allem in Nordamerika und in Europa daheim sind. Die «Verlierer» am linken Rand sind vor allem Bewohner Schwarzafrikas. Die Einkommensgruppen um das 80. Perzentil mit einem Einkommenswachstum von nur knapp über Null stammen mehrheitlich aus den westlichen Industriestaaten. Es handelt sich hier nicht zuletzt um den europäischen Mittelstand (einschliesslich des unteren Mittelstandes), da er im globalen Vergleich zum obersten Viertel oder Fünftel der Einkommensverteilung gehört, denn noch bedeutet die Geburt in einem westlichen Industriestaat fast automatisch einen Platz ganz oben in der weltweiten Einkommensverteilung.

Man kann also sehr vereinfachend sagen, dass die mittleren Einkommensklassen in den aufstrebenden Ländern des Südens an Wohlstand und an demografischem Gewicht zunehmen, während die Mittelklasse in den reichen Ländern in beiderlei Hinsicht stagniert. Wenn man den Mittelstand für gesellschaftlich stabilisierend und für demokratiefördernd hält, eröffnet das gute Perspektiven vor allem für die Dritte Welt – aber leider weniger erfreuliche für die Erste Welt.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 28.06.2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».