Am Ende wurden die Teilnehmer des Liberalen Gesprächskreises vom Betriebsdienst der Universität Zürich gebeten, den Hörsaal zu verlassen. Es war bereits kurz vor 22 Uhr; die Universität schloss in ein paar Minuten. Der Gesprächskreis mit Gerhard Schwarz, Direktor von Avenir Suisse, war sehr lehrreich, unterhaltsam und kontrovers – und vor allem war er ein Ort, an dem sehr ausgiebig in offener Atmosphäre diskutiert werden konnte.

Schweiz – «kein liberales Nirwana»

Gerhard Schwarz, Mitherausgeber des Buches «Ideen für die Schweiz, 44 Chancen, die Zukunft zu gewinnen» (Verlag NZZ, 2013), stellte gleich zu Beginn klar, dass die Schweiz «kein liberales Nirwana» sei. Die Eidgenossenschaft verdanke ihr vergleichsweise erfolgreiches Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell der Offenheit der Schweiz gegenüber der Einwanderung, der Internationalität von Schweizer Firmen, die in ihrer Bereitschaft zur Aufnahme fremder Unternehmenskulturen zum Ausdruck kommt, dem dualen Bildungssystem, das eine tiefe Maturitätsquote gewährleistet, und den Rahmenbedingungen (interkantonaler Steuerwettbewerb, halbdirekte Demokratie, Neutralität, usw.). Die Schweiz gehöre aber zu den grossen Verlierern nach dem Ende des Kalten Krieges. Heute stehe sie vermehrt in politischer Isolation. Der Referent mahnte darum, sich der Gründe des Erfolges wieder bewusst zu werden. Die Schweiz sei glücklicherweise unabhängig. Das heisst aber auch, dass sie sich im Ernstfall nicht unter einen Schutzschirm retten könne. Darum sei eigenverantwortliches Handeln mit Weitblick für zukünftige Anliegen umso wichtiger. An dieser Stelle setzt das Buch von Gerhard Schwarz an.

44 Ideen

Die 44 Ideen seien kein Weissbuch – auch kein «Schwarzbuch» –, sondern sie stellen Denkanstösse dar, die unterschiedlich weit ausformuliert seien, so Gerhard Schwarz. Auf vier Ideen ging der Referent vertieft ein. 1) Zuwanderung: Als Mittel gegen die steigende Zuwanderung (netto ca. 70‘000 Personen pro Jahr) empfiehlt die Avenir Suisse eine freiwillige Beschränkung der Unternehmen, weniger ausländische Arbeitskräfte zu rekrutieren. Eine solche Lösung wäre mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU vereinbar. Erst falls die Selbstbeschränkung nicht funktionieren sollte, würden automatisch Kontingente eingeführt. 2) Mobility Pricing: Heute ist Mobilität weder auf der Strasse noch auf der Schiene kostendeckend (Auto: 90%, Bahn: 40%). Das heisst, es findet entgegen dem liberalen Verursacherprinzip eine finanzielle Umverteilung vom Steuerzahler zu insbesondere Bahnnutzern statt. In Zukunft brauche es zudem – ähnlich dem Flugverkehr – mehr Preisdifferenzierung für unterschiedliche Zeiten und Strecken. 3) Die Avenir Suisse steht für eine Erhöhung der Hürden für die demokratischen Mitspracherechte (Initiative, Referendum) ein. Heute brauche es fürs Zustandekommen einer Initiative aufgrund des Bevölkerungswachstums bloss noch 2,2% der Stimmberechtigten (1891 waren es noch 7%). Darum seien die Unterschriftenzahlen zu verdoppeln (Initiative: 200‘000, Referendum: 100‘000). Für Gerhard Schwarz stellt die Erhöhung keine Beschränkung der Volksrechte dar, sondern eine «Verwesentlichung» direktdemokratischer Prinzipien. 4) Der umstrittenste Vorschlag betrifft ein gesellschaftspolitisches Thema: die Armee. An Stelle der Wehrpflicht für Männer (Militär, Zivilschutz, Zivildienst) sei ein allgemeiner Bürgerdienst einzuführen. Heute muss bloss 20% der Gesamtbevölkerung «Dienst für den Staat» leisten. In Zukunft sollen auch Frauen und Ausländer mit Niederlassungsbewilligung einem allgemeinen Bürgerdienst nachkommen müssen.

Die Schweiz und ihr genossenschaftliches Vermächtnis

Konzentrierte sich das Referat noch auf vier Punkte, wurden in der Diskussion alle «Themendämme» geöffnet. Grundsätzlich wurde die Ausrichtung der 44 Ideen kritisiert: Avenir Suisse solle doch konsequent liberale Visionen verfolgen, und nicht bloss pragmatische Lösungsvorschläge für National- und Ständerat. Der Referent entgegnete, sein Think Tank müsse den «mentalen Teppich» für die Politik legen. Er sehe seine Aufgabe darin, innerhalb eines kurz- und langfristigen Horizonts die richtigen Lösungen zu vermitteln. Dies sei nun einmal die reale Politikwelt, in der er sich zu bewegen habe. Persönlich sei er ein Liberaler, der versucht, nach marktwirtschaftlichen Lösungen innerhalb der bestehenden Institutionen zu suchen. Diese Institutionen seien ja wohl nicht zufällig entstanden, sondern «Traditionen» im hayekianischen Sinn. Es gelte darum, sie weiterzuentwickeln. Zudem müsse man sich bewusst werden, dass die Schweiz ideell auf einem genossenschaftlichen Boden baue, was beispielsweise im Militärdienst der männlichen Bürger zum Ausdruck komme. Von diesen Prämissen her müsse der liberale Staat gedacht werden, so der Referent.

Wie gross ist der «Entmündigungskoeffizient»?

Ein «Klassiker» unter Liberalen ist die Frage nach der Grösse des Staates, und damit nach seinen Aufgaben und deren Finanzierung. Dabei zeigte sich, dass der Referent die Staatsaufgaben konsequent in den schweizerischen Kontext stellt. So sei beispielsweise das Milizsystem, sei es im Militär oder sei es in der Politik, eine eidgenössische Eigenheit. Auch wenn solche Massnahmen Eingriffe in die persönliche Freiheit und damit illiberalen Zwang darstellen, sind sie Ausdruck unseres Staatsverständnisses, was aber nicht mit Staatsgläubigkeit verwechselt werden darf. Dies gelte auch für den Bürgerdienst, der nicht «Sklaverei aller», wie ein Teilnehmer bemerkte, sondern Dienst am Staat sei. Die «Staat sind wir alle»-These rief im Publikum einigen Widerspruch hervor. Gerade unter den jüngeren Anwesenden wurde dagegen eingewendet, dass der Staat – vor allem über seine bürokratischen Strukturen – eine Eigendynamik angenommen habe, welche in immer weitergehenden Eingriffen in das Leben des Individuums ende. Gerhard Schwarz stellte klar, dass der Staat seine Legitimation natürlich unter der Hypothese besitzt, dass er angemessene Leistungen im Gegenzug für unsere Leistungen (Steuern, Abgaben, Wehrpflicht etc.) erbringen muss. Die Idealgrösse des Staates solle sich demnach am Ausspruch «peace, tolerable justice, and easy taxes» (Adam Smith) orientieren, so der Referent. Aus der Produktion von Gütern und Dienstleistungen solle sich der Staat vollständig raushalten. Dasselbe gelte freilich für Eingriffe in das Privatleben der Bürger, so der Referent. Regulierung sei in gewissen Bereichen aber eine Notwendigkeit. Wichtig sei, dass Politiker nahe beim Bürger sind, indem sie «nicht von der Uni direkt ins Parlament wechseln» und zumindest einmal «ein Bein in der Realität» hatten. Das Milizsystem sei darum wichtig; die Unprofessionalität der Politiker sei der wesentlichste Aspekt daran. Die Kehrseite der Milizpolitik sei aber, dass die Bürokratie im Hintergrund zwangsläufig immer grösser werde. Die eigentliche Macht im politischen Gefüge liege denn auch dort, so die Auffassung eines Grossteils der Teilnehmer. Bürokraten arbeiten nicht nur neue Gesetze aus, sondern sie greifen auch vermehrt direkt ins Leben des Individuums ein, ohne dass sie dessen oder wenigstens die Zustimmung der Mehrheit des Volkes hätten.

Mythos Demokratie

Nicht nur der Rechtsstaat werde zunehmend ausgehöhlt, sondern auch die Demokratie sei ein Mythos, der sich unter Schweizern hartnäckig halte. Die Demokratiequote, also die Mitbestimmungsmöglichkeit des Bürgers, sei in Wahrheit verschwindend klein, so eine Teilnehmerin. Die Vision, der Staat seien wir alle, werde zudem durch eine wachsende Staatsquote immer «wahrer». Menschen werden Angestellte, Empfänger und Profiteure des staatlichen Gewalt- und Umverteilungsmonopols (rent-seekers). Demokratische Prozesse finden unter solchen Umständen vorwiegend zugunsten weiterer staatlicher Interventionen statt.

Ursprung technischen Fortschritts

Technischer Fortschritt, so der Referent, entstehe überwiegend im Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (F.A. von Hayek). Dabei sei die Vielfalt Europas, also der Wettbewerb unterschiedlicher Gesellschaftsphilosophien und Lebensformen, verantwortlich für den Erfolg des Alten Kontinents (Douglass C. North). Dennoch dürfe auch nicht vergessen werden, dass es auch zentral gelenkten Fortschritt gegeben hat. Der Ausspruch, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei (Heraklit von Ephesos), stimme eben doch zu einem gewissen Grad. Freilich sei der Fortschrittsbegriff nicht eindeutig. Fortschritt kann sowohl Verbesserung als auch Veränderung für den Einzelnen bedeuten. Und wer könne schon bestimmen, was guter und was schlechter Fortschritt sei. Ein Teilnehmer bemerkte darauf, dass viele Innovationen rein privat entstanden seien (Bsp. Internet, Linux, Wikipedia). Es stellte sich bei der Diskussion jedoch heraus, dass diese Aussage durchaus umstritten ist. Was aber allen klar war, ist die Tatsache, dass staatliche Interventionen – allen voran Kriege – Opportunitätskosten verursachen, die in ihrer Grössenordnung unmöglich beziffert werden können. Die entscheidende Frage lautet also viel mehr, was hätte der Markt mit den finanziellen Mitteln, die für Waffen und Munition im 20. Jahrhundert ausgegeben wurden, sonst alles anstellen können. Wo stünden wir heute, hätte es keine Vernichtung von Mensch und Eigentum gegeben?

Dieser Bericht erschien auf der Homepage des Vereins 
«Studierende für die Freiheit Zürichs» am 16. Mai 2014.