Jérôme Cosandey, Sie schreiben in Ihrem Buch, der Generationenvertrag sei mehr als nur eine Frage von Geldleistungen. Was zählen Sie sonst noch dazu?

Der Generationenvertrag ist wesentlich komplexer. Da ist zum Beispiel das persönliche Engagement: Eltern etwa verbringen unzählige Stunden mit der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder. Andere pflegen ihre betagten Eltern so lange, wie es geht, zu Hause – mehr als die Hälfte der ambulanten Alterspflege-Stunden entfällt heute nicht auf Spitex-Fachleute, sondern auf Privatinitiative. Hinzu kommt die Vereinsarbeit vom Juniorentrainer bis zum Chorleiter – das alles spielt sich quer durch die Generationen ab und ist Bestandteil des Vertrages.

Die Menschen denken ja auch nicht so stark in Generationen-Kategorien.

Genau. Darum kommt es auf dem Bundesplatz auch nicht zu Demonstrationen von bestimmten Altersgruppen. Die Leute erleben eine Wirklichkeit, die weit über die Geldumverteilung hinausgeht.

Sie unterscheiden in Ihrem Buch nicht einfach zwischen Kindern, Erwerbstätigen und Rentnern, sondern fügen die Gruppe Jungrentner hinzu. Welche Rolle spielen diese aktiven 60- bis 80-Jährigen?

Eine immer wichtigere. Keine andere Altersgruppe engagiert sich im sozialen Leben so stark in der informellen Hilfe wie sie: sei es bei der Betreuung ihrer Enkel oder ihrer pflegebedürftigen Eltern oder bei der Nachbarschaftshilfe. Sie bildet nicht nur eine wichtige Stütze für die Gesellschaft. Sie stellt gleichzeitig bereits heute eine wichtige Stütze für die Wirtschaft dar. Denn die jungen Rentner haben Geld, sind gut ausgebildet, in der Regel aktiv und verfügen über viel Know-how. Sie reisen, besuchen Uni-Seminarien, und jeder Fünfte geht einer Arbeit nach. Sie reifen in der Altersvorsorge zu einer vierten Säule heran.

Genau so schwebt es dem Bundesrat mit seiner Rentenreform 2020 vor. Viele Jungrentner beschweren sich aber über die starren Altersregeln auf dem Arbeitsmarkt sowie im Rentensystem und über das Desinteresse bei einem Teil der Arbeitgeber.

Es ist Besserung in Sicht. Die Reform 2020 sieht eine Teilrente vor, mit der Jungrentner zum Beispiel von 60 bis 70 in einem Teilzeitpensum arbeiten, ohne grosse finanzielle Einbussen hinnehmen zu müssen. Die Wirtschaft ist ohnehin gefordert, neue Modelle zu entwickeln, denn nach der Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative wird sich der Fachkräftemangel erst recht verschärfen. Warum soll sich zum Beispiel ein Maschinenmechaniker nicht über sein Rentenalter hinaus an zwei, drei Tagen in der Woche um ältere Maschinenmodelle bei den Kunden seines Arbeitgebers kümmern? Oder ein Bäcker über 65 vor Ostern und Weihnachten ein paar Wochen im Betrieb mithelfen? Umfragen zeigen, dass die meisten Jungrentner dafür zu haben sind.

Weil für den Bäcker und den Mechaniker heute die Anreize fehlen?

Ja, das ganze Umfeld muss innovativer werden, da steckt noch viel in den Kinderschuhen. Trotzdem gibt es bereits heute interessante Lösungen – auch bei den IKMU. Wir müssen uns von den fixen Arbeit-und-Renten-Vorstellungen lösen. Unsere Gesellschaft muss aufhören, ihre Probleme dem Staat aufzubürden. Die Politik soll die Leute machen lassen und die Hürden für neue Ideen aus dem Weg räumen.

Sie legen grossen Wert auf Freiwilligenarbeit. Doch in der individualisierten Gesellschaft ist es schwer, genügend Juniorentrainer oder Chordirigenten zu finden. Mit welchem Anreiz lässt sich das ändern?

Dazu gibt es schon interessante Ansätze. In Stans und St Gallen etwa sind so genannte Zeitbörsen am Werk. Pensionierte, die Betagten oder andern helfen, können den Zeitaufwand dort angeben. Etwa wenn sie mit Taxis des Roten Kreuzes Pflegebedürftige herumfahren. Später, wenn die Helfer selber auf Hilfe angewiesen sind, bekommen sie «ihre Zeit» durch die Unterstützung von andern zurückvergütet Die Idee ist bestechend und bestimmt nicht die einzige, die rüstige Rentner motiviert, etwas für das Allgemeinwohl zu leisten.

Die Altersgruppe mit den Babyboomern der Jahrgänge 1945 bis 1965 ist heute schon die entscheidende politische Macht bei Abstimmungen und Wahlen. Was heisst das für die Politik, die den Generationenvertrag umzusetzen hat?

Wenn die Politik mit dem Hammer daherkommt und Rentenaltererhöhungen oder Rentenkürzungen anordnet, ist sie chancenlos. Das wäre etwa so, als würde man einen Metzger zum überzeugten Veganer umerziehen wollen. Der Bundesrat ist darum gut beraten, die Zusammenhänge leicht nachvollziehbar, deutlich zu machen. Zum Beispiel mit einer Generationenbilanz, die es im Gleichgewicht zu halten gilt. Dann leuchtet es auch Rentenbezügern ein, dass die Schuldenbremse bei den Sozialwerken ein geeignetes Mittel ist, den Jungen nicht Schuldenberge zu hinterlassen.

Die so genannte Sandwichgeneration von 35 bis 64 zahlt am meisten in die staatlichen Kassen. Wird sie in 20 oder 30 Jahren noch in der Lage sein, gleichzeitig das Bildungswesen und die Pflegekosten zu stemmen?

Sie lässt sich tatsächlich mit einer schrumpfenden Zitrone vergleichen, aus der immerzu mehr rausgepresst wird. Ändert sich nichts, sinkt die Bereitschaft dieser Altersgruppe, in anonyme Sozial- und Steuerkassen zu zahlen. Zumal die meisten von ihnen privat schon sehr solidarisch gegenüber den Älteren und Jüngeren sind.

Wäre eine obligatorische Alterspflegeversicherung eine Hilfe für die Sandwichgeneration? Oder ist es dazu schon zu spät?

Zu früh käme die Pflegeversicherung bestimmt nicht Sie würde schon nach einem Jahr die öffentlichen Kassen entlasten. Der Aufbau ist leicht zu bewerkstelligen, mit den Krankenkassen und Pensionskassen gibt es bereits die Einrichtungen, die über Erfahrung auf diesem Gebiet verfügen. Wichtig ist: Es muss Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern herrschen. Die Leute sollen zwischen Angeboten auswählen können. Das hebt das Leistungsniveau.

Sie schreiben in Ihrem Buch: «Bildung rentiert» und verweisen auf das hohe Bruttoinlandprodukt der Schweiz. Bildungskosten stellen einen Geldtransfer von Erwachsenen zu den Jungen dar. Was trägt das Bildungsniveau zur Lösung bei, die demografische Herausforderung zu meistern?

Bei der Finanzierung der stark beanspruchten Sozialeinrichtungen sind gut ausgebildete Leute schon darum wichtig, weil sie besser verdienen als ungelernte. Je höher der Anteil alter Menschen wird, desto mehr Berufsfachleute braucht es in den Heimen, in der Spitex und den Spitälern. Es wird eine der grossen Herausforderungen sein, genügend Leute dafür zu rekrutieren.

Wenn man 2114 auf die Bewältigung der demografischen Herausforderung zurückschaut – was glauben Sie: Wie wird das Urteil ausfallen?

Ich bin kein Hellseher. In dieser Situation war noch keine Gesellschaft vor uns. Entweder schaffen wir es mit neuen Ideen, viel privater Initiative und Verzichtsbereitschaft Oder die Babyboomer gehen als eine Generation in die Geschichte ein, die ihren Nachkommen Schuldenberge hinterlassen hat.

Dieses Interview erschien in der Neuen Luzerner Zeitung vom 11. Juli 2014.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Luzerner Zeitung.