SWZ: Herr Müller, wir Südtiroler wissen über unsere Schweizer Nachbarn im Grunde viel weniger als über Österreich oder Deutschland. Wundern Sie sich darüber, dass sich die Südtiroler kaum für die Erfolgsrezepte des Wohlstandslandes Schweiz interessieren?

Andreas Müller: Mit Blick auf die geographische Situation ist es nachvollziehbar, dass den Südtirolern Österreich näher liegt als die Schweiz. Umso mehr freut es mich, dass das Global Forum Südtirol die Frage, welche Impulse Ihr Land von der Schweiz übernehmen könnte, zum Jahresthema gemacht hat.

Gut, versuchen wir, von der Schweiz zu lernen. Südtirol ist mehrheitlich der Meinung, dass die Energieproduktion in öffentliche Hände gehört. Welche Rolle spielt die Privatinitiative in der Schweizer Energieproduktion?

In der schweizerischen Energiepolitik spielen die Kantone eine zentrale Rolle. Die Mehrheit der Wasserkraftwerke sowie die bestehenden Atomkraftwerke sind direkt oder indirekt in ihrem Eigentum. Mit dem politischen Beschluss zur Energiewende soll nun auch ein Ausstieg aus der Atomenergie erfolgen. Das führt nun dazu, dass der staatliche Einfluss auf den Energiesektor zunimmt, weil die Energiewende nach dem Willen vieler Politiker mit Subventionen herbeigeführt werden soll. Wir von Avenir Suisse stehen dieser Entwicklung sehr skeptisch gegenüber, weil wir Fehlanreize befürchten. Die Erfahrung lehrt, dass einmal gewährte Subventionen stets schwer abzuschaffen sind, selbst wenn sie ursprünglich nur für eine Übergangszeit geplant waren. Gleichzeitig beobachten wir, wie auch Deutschland die Energiewende mit Subventionen fördert und die Kritik an den entsprechenden Kosten für die Steuerzahler wächst.

Private haben in der Stromproduktion also durchaus Berechtigung.

Ja, natürlich. Gerade in der Schweiz sehen wir auch, dass die enge Vernetzung zwischen den Energieversorgern und dem Staat in vielen Fällen kritisch ist. Der Staat sollte effiziente Rahmenbedingungen schaffen, unabhängige Produzenten und Versorger sollten im Markt agieren. Die Vermischung der Rollen schlägt sich häufig in schlechten Rahmenbedingungen oder ineffizienten Unternehmensstrategien nieder.

In Südtirol sind das Land und die beiden Stadtgemeinden Bozen und Meran die wichtigsten Stromproduzenten. Sie wünschen sich Einnahmen, um das Geld umverteilen zu können, die Bürger wünschen sich billigen Strom. Welches ist der richtige Weg? 

Bei uns gibt es ähnliche Diskussionen, vor allem in den Bergkantonen. Genau dies ist das Problem der vermischten Rollen. Bisher glaubten die Kantone mit ihren Kraftwerken eine Art «eierlegende Wollmilchsau» zu haben, mit der sie Energiepolitik und gleichzeitig sichere Gewinne machen konnten. Im liberalisierten Markt ist das nicht mehr so. Die Unternehmen müssen ihre Strategien an den Markt anpassen, für den Eigner entstehen auch finanzielle Risiken.

Zu einem anderen Thema, der direkten Demokratie, die in der Schweiz eine lange Tradition hat und in Südtirol in den Kinderschuhen steckt. Darf man den Bürgern zutrauen, über jedes Thema abzustimmen? 

Im Prinzip ja. In der Schweiz ist das mehr oder weniger so. Bei uns darf nur über Fragen des zwingenden Völkerrechts – beispielsweise die Einführung der Todesstrafe – nicht abgestimmt werden. Ansonsten kann das Volk eine Initiative zu jedem beliebigen Thema starten. Allerdings läuft in der Schweiz die Diskussion, ob die notwendige Unterschriftenzahl für eine Initiative erhöht wird. Laut geltender Regelung wird es durch die wachsende Bevölkerung immer einfacher, Initiativen zu lancieren – als 1891 die direkte Demokratie eingeführt wurde, benötigten Initiativen die Unterschrift von fast acht Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung, mittlerweile nur mehr zwei Prozent (in Südtirol wären das 8’000 Unterschriften, Anm. d. Red.). Die Folge ist, dass sich seit den 1990er-Jahren die Anzahl der Initiativen häuft. Wir von Avenir Suisse möchten den Bürgern keinesfalls die Mitsprache verbieten, wir wünschen uns aber eine Verwesentlichung der Demokratie und schlagen vor, dieses direktdemokratische Instrument effizienter zu nutzen. Die Erhöhung der Unterschriftenzahl wäre eine Möglichkeit, wir haben aber auch alternative Vorschläge unterbreitet.

In Südtirol wird in Sachen direkte Demokratie ebenfalls ein Glaubenskrieg darüber geführt, wie hoch die Zugangsbarriere – sprich die Mindestzahl der gesammelten Unterschriften – sein soll und ob ein Teilnahmequorum für die Gültigkeit Sinn macht. Was sagen Sie? 

Bei uns existiert kein Beteiligungsquorum, weswegen wir diesbezüglich nicht mit Erfahrung dienen können. Je nach Tragweite der Abstimmungsvorlagen gehen gegen die Hälfte der Stimmberechtigten an die Urne, manchmal auch nur 25 Prozent. Das Abstimmungsergebnis hat auf jeden Fall Gültigkeit, egal, wie hoch die Stimmbeteiligung ist.

Die Schweiz nimmt in Kauf, dass eine interessierte Minderheit über die uninteressierte Mehrheit bestimmt.

Genau. Allerdings liegt die Beteiligung bei Sachfragen zuweilen sogar höher als bei Wahlen. Die Wahlbeteiligung für die Kantonalparlamente beträgt oft nur 30 bis 35 Prozent, bei Wahlen für das Bundesparlament um die 50 Prozent. Die meisten Schweizer haben das Gefühl, zwar Vertreter in die Parlamente zu entsenden, am Ende dank direkter Demokratie aber sowieso selbst zu bestimmen – auch wenn das so nicht ganz stimmt. Die Wahlen sind den Schweizern nicht so wichtig wie den Bürgern anderer europäischer Staaten.

Die Welt erschrak, als die Schweiz am 9. Februar für Einwandererkontingente stimmte. Die direkte Demokratie hat offensichtlich Schwächen, selbst in einem Land, das viel Erfahrung mit dem Instrument hat.

Natürlich ist es bei komplexen Abstimmungen schwierig, die Auswirkungen im Detail gut darzustellen. Tatsächlich ist umstritten, ob den Schweizern am 9. Februar die Tragweite und die Umsetzbarkeit der Entscheidung wirklich bewusst waren. Die Abstimmung vom 9. Februar ist das Ergebnis eines neuen Phänomens: Während bis vor 15 Jahren vor allem Referenden – das Volk sagt Ja oder Nein zu einem Gesetz des Parlaments – erfolgreich waren und Volksinitiativen kaum angenommen wurden, haben nun immer mehr Initiativen Erfolg. Die Bürger hegen offensichtlich eine erhöhte Skepsis gegenüber der politischen und wirtschaftlichen Elite. Allerdings sind die Texte der Volksinitiativen, welche von den Initiatoren selbst geschrieben werden, nicht immer bis zur letzten Konsequenz durchdacht. Das ist am 9. Februar passiert, weshalb die Politik jetzt versucht, einerseits den Volkswillen ernst zu nehmen, und andererseits, wenn möglich, internationale Verträge nicht zu verletzen. Das wird ein sehr schwieriger Prozess.

Die Schweiz hat genauso wie Südtirol eine lange Tradition in der dualen Lehrlingsausbildung. Allerdings sinkt in Südtirol das Interesse an der Lehre, weil Vollzeitausbildungen und Universitätsstudien ein höheres Ansehen genießen. Ist diese Entwicklung einfach hinzunehmen oder gefährlich für den Wirtschaftsstandort?

In der Schweiz geht immer noch die Mehrheit der Jugendlichen in die Lehre und nicht ans Gymnasium. Allerdings macht sich auch bei uns eine leichte Tendenz zu einer steigenden Maturitätsquote und zu einem Lehrlingsmangel bemerkbar. Die Schweiz hat eine Arbeitslosenrate von bescheidenen drei Prozent, deswegen kann unser System so schlecht nicht sein. In Südtirol liegt die Arbeitslosigkeit meines Wissens ja auch nur unwesentlich höher. Von daher ist die duale Lehrlingsausbildung schon ein Stärkefaktor für einen Wirtschaftsstandort.

Die Schweiz lockt viele kluge Köpfe aus dem Ausland an, welche in der Forschung, in der Medizin oder in anderen Bereichen tätig sind, während Südtirol eine Abwanderung beklagt. Was wiegt schwerer: die Verdienstmöglichkeiten oder die Berufschancen? 

Ich denke, die Mischung macht’s. Natürlich spielen die Verdienstmöglichkeiten eine Rolle. Gleichzeitig ist der Schweizer Arbeitsmarkt attraktiv, weil die Arbeitslosigkeit sehr gering ist. Pro Jahr strömen zirka 80’000 Nichtschweizer herein, und die meisten von ihnen finden einen Job, ohne dass die Arbeitslosigkeit steigt. Wenn jetzt viele Menschen aus den südeuropäischen Ländern in die Schweiz kommen, hat das ganz offensichtlich mit dem dort lahmenden Heim-Arbeitsmarkt zu tun.

Südtirols Politik betont die Bedeutung von Innovation als Wettbewerbsfaktor für einen Wirtschaftsstandort. Muss Innovation öffentlich gefördert werden oder eher nicht, weil sie die Unternehmen eh im Eigeninteresse betreiben sollten?

Der Staat investiert stark in die Grundlagenforschung, im gesamten Forschungsbudget werden aber zwei Drittel der Ausgaben von den Unternehmen getätigt – damit liegt die Schweiz europaweit im Spitzenfeld. Die Schweiz ist bisher mit der Ausrichtung, nicht alles öffentlich machen zu wollen, gut gefahren.

Dieser Artikel erschien in der Südtiroler Wirtschaftszeitung (Nr. 30/2014) 
unter dem Titel «Lernen von den Schweizern».
Mit freundlicher Genehmigung der «Südtiroler Wirtschaftszeitung».