Im politisch-gesellschaftlichen Diskurs stösst man oft auf «Wortkeulen». Sie dienen dazu, eine Idee und jene, die sie lancieren, als unmoralisch anzuprangern. Meist kommen sie zum Einsatz, wenn man mit sachlichen Argumenten am Ende ist. Sie werden in der Politik fast inflationär eingesetzt, vernebeln klare Sachverhalte und appellieren an die Gefühle statt an die Vernunft. Entsprechend schwer kann man sich gegen sie wehren.

Eine solche Keule ist «Entsolidarisierung». Sie wird von linkskonservativen Verteidigern des sozialpolitischen Status quo geschwungen, wenn auch nur kleinste Retuschen am System propagiert werden. Symptomatisch war die Reaktion verschiedener Exponenten fast jeglicher parteipolitischer Couleur auf den Avenir-Suisse-Vorschlag, eine kapitalgedeckte, vererbbare Pflegeversicherung einzuführen: In sie müssten alle Einwohner ab dem Alter 55 Beiträge einzahlen. Die Kritiker, auch solche, die den Vorschlag noch kaum im Detail gelesen hatten, sahen sogleich den Kit der Gesellschaft gefährdet und beklagten die verheerende Individualisierung. Im Zusammenhang mit einem solchen Vorschlag einen Verlust an Solidarität zu beklagen, ist aber nur möglich, wenn man zwei Aspekte der Solidarität ausser Acht lässt, die für den Begriff wesensnotwendig sind.

Oft heisst «Solidarität» schlicht erzwungene Umverteilung

Der eine Aspekt ist die Freiwilligkeit. Nur freiwillige Hilfe ist solidarische Hilfe. Doch leider herrscht hier grosse Begriffsverwirrung. So werden progressive Steuern und Prämienzahlungen in umverteilende Sozialversicherungen fälschlicherweise auch dann als Ausdruck von Solidarität bezeichnet, wenn sie nicht aus freien Stücken bzw. mit dem Einverständnis der Betroffenen erfolgen, sondern vom Staat, der Mehrheit der Mitbürger oder den Empfängern der Hilfe erzwungen werden. Noch absurder ist es, jene solidarisch zu nennen, die mit demokratischen Mehrheiten das Geld Dritter einem «guten Zweck» zuführen. Dabei handelt es sich schlicht um erzwungene Umverteilung. Aber Solidarität tönt natürlich gefälliger, so wie umgekehrt Entsolidarisierung effektvoller tönt als «Reduktion der Umverteilung».

Die jüngeren und mittleren Altersgruppen akzeptieren bisher vielleicht etwas murrend, aber im Prinzip aus Überzeugung den sogenannten Generationenvertrag. Dass sie sich aber zu wehren beginnen, wenn dieser «Vertrag», den sie weder ausgehandelt noch unterschrieben haben, laufend verändert wird, also ihre Last absolut und relativ zum Einkommen steigt, Mehrbelastungen einseitig bei ihnen anfallen und sie den Versprechungen, dass dereinst auch ihre Renten gesichert sein werden, kaum noch Glauben schenken können – das darf man ihnen nicht verargen. Entsolidarisierung ist das keinesfalls.

Das allererste Erfordernis heisst «Eigenverantwortung»

Der andere Aspekt, der im Zusammenhang mit der Solidarität gerne ausgeblendet wird, ist die Eigenverantwortung. Aus freien Stücken gelebte Solidarität mit den Schwachen steht nicht, wie in dieser Zeitung zu lesen war, im Widerspruch zum Individualismus, sondern ist sehr wohl Ausdruck eines richtig verstandenen Liberalismus. Nur kommt in einem solchen Verständnis die Eigenverantwortung zuerst. Jede und jeder ist gefordert, möglichst gut für sich und die Seinen zu sorgen. Erst wenn das nicht genügt, soll die Allgemeinheit bemüht werden. Das Kollektiv – einer Versicherung wie einer staatlichen Gemeinschaft – sollte subsidiär sein und nur einspringen, wenn die eigenen Kräfte nicht ausreichen. Solidarität bedeutet, jenen zu helfen, die sich selbst nicht helfen können oder die, obwohl sie vorgesorgt haben, vom Schicksal überrollt werden. Zu solch subsidiärer staatlicher Hilfe werden auch die meisten Bürger Ja sagen, die wegen ihrer hohen Einkommen diese Hilfe weitgehend finanzieren.

Hingegen ist es kein Zeichen von Solidarität, wenn etwa die Pflege weitgehend mittels unfreiwilliger Umverteilung finanziert wird, wie das derzeit der Fall ist. Dementsprechend ist es kein Ausdruck von Entsolidarisierung, mehr Eigenvorsorge verpflichtend einzufordern. Wenn alle für sich Vorsorge treffen und die Wohlhabenderen nicht das Gefühl haben müssen, Trittbrettfahrer zu finanzieren, sollte das den Zusammenhalt der staatlichen Gemeinschaft und richtig verstandene, also freiwillige, subsidiäre Solidarität stärken.

Dieser Artikel erschien in der «Aargauer Zeitung» vom 07.08.2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Aargauer Zeitung».