Gerhard Schwarz, Sie haben quasi die Seiten gewechselt: Waren Sie früher als Redaktor tätig, sind Sie heute Direktor von Avenir Suisse. Welche Tätigkeit ist befriedigender?

Ich bin froh, vor vier Jahren die Herausforderung bei Avenir Suisse angenommen zu haben. Es ist eine geradezu privilegierte Aufgabe, ohne Rücksicht auf die kurzfristige Umsetzung und auf irgendwelche Sonderinteressen über die Zukunft der Schweiz nachzudenken, Debatten anzustossen, Themen frühzeitig aufzugreifen. Aber ich war davor auch mit Leib und Seele Journalist. Es war eine Tätigkeit, die meinen Neigungen und Eignungen ebenfalls in idealer Weise entsprach. Die Aufmerksamkeit, die ich bei der NZZ erfuhr, war gross, aber ich hoffe, dass ich hier längerfristig noch mehr anstossen kann.

Avenir Suisse vertritt eine marktwirtschaftliche Sichtweise und orientiert sich an einem klassischen liberalen Welt- und Gesellschaftsbild. Die meisten Journalisten werden dagegen als eher links eingestuft. Fühlen Sie sich im jetzigen Umfeld besser aufgehoben?

Ich habe kein Problem damit, mich ausserhalb des Mainstream zu bewegen, sonst wäre ich am falschen Ort. Man muss schon einiges einstecken können. Das habe ich aber mit meinen pointierten Artikeln schon bei der NZZ gelernt; sie waren selbst innerhalb des bürgerlichen Hauses nicht immer unumstritten. Und zum Glück gibt es ja schon einige liberale Journalisten, ganz einsam war und bin ich also nie.

Eine Gemeinsamkeit besteht: Wie viele Journalisten möchte auch Avenir Suisse Veränderungen einleiten. Können Sie uns ein Beispiel nennen, wo Avenir Suisse massgebliche Impulse ausgesendet hat.

Wir haben eine sehr lange Perspektive, 10, 15, sogar 20 Jahre. Wir haben vor 14 Jahren mit einem ganz kleinen Team angefangen. Trotzdem gibt es bereits in vielen Gebieten mehr als nur Duftmarken. In der ganzen Diskussion um die alternde Gesellschaft kamen und kommen wesentliche Impulse von uns, ebenso in Fragen der räumlichen Entwicklung, der Raumplanung, des Zusammenspiels von Stadt und Land. Dann nehmen wir den Service public seit Jahren kritisch unter die Lupe. Unsere Beiträge zur Energiepolitik sind fast die Einzigen, die über allen Parteipositionen stehen, auch nicht von der Energiewirtschaft stammen und gleichzeitig von höchster fachlicher Kompetenz zeugen. Mit unserem Beitrag zur Zukunft der Lehre haben wir das Thema etwas aufgemischt und geöffnet. Besonders wichtig war mir in der letzten Zeit unsere Analyse des Mittelstandes. Viele unserer Anstösse haben wir in der Publikation «Ideen für die Schweiz» zusammengetragen, die uns eine eigene, kritische Medienkonferenz einer Bundesratspartei und bisher drei Auflagen des Buches eingetragen hat.

Die Schweiz steht in Bezug auf Wohlstand, Lebensqualität und Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich relativ gut da. Wo besteht effektiv der dringendste Handlungsbedarf?

Am vordringlichsten ist es, die Stärken unseres Landes nicht zu unterminieren. Zu diesen Stärken zählen der relativ liberale Arbeitsmarkt, die Verlässlichkeit der Politik und die Identifikation der Bürger mit der Politik. Leider sägen wir an diesen Ästen, auf denen wir sitzen. Wir haben mit den flankierenden Massnahmen dem Arbeitsmarkt Flexibilität entzogen. Ferner haben wir mit unserem zum Teil leichtfertigen Nachgeben auf ausländischen Druck und mit vielen Initiativen, die Schädliches fordern und damit verunsichern, das Image als Hort der Stabilität mehr als nur angekratzt. Und Professionalisierung und Polarisierung der Politik nähren die Politikverdrossenheit und gefährden den nationalen Zusammenhalt.

Schaden uns Entwicklungen wie beispielsweise die Masseneinwanderungs- oder die Minder-Initiative tatsächlich nachhaltig?

Die politische Debatte schadet nicht, sie zählt zu den Stärken unseres politischen Systems und des Landes. Die einzelnen Initiativen sind für sich genommen selten dramatisch. Würde man etwa die Volksmehrheit ernst nehmen, müsste man die Verfassungsbestimmung zur Masseneinwanderung jetzt nicht möglichst wörtlich, sondern dem Sinn und Geist nach umsetzen; dann hielte sich der Schaden in Grenzen. Was aber schadet, ist die Fülle von Initiativen, die in der letzten Zeit lanciert wurden und die an den Grundlagen unseres Erfolgs, der liberalen Wirtschaftsordnung, sägen. Das verunsichert – und Verunsicherung ist Gift für alle Unternehmer und Investoren.

«Die Schweiz, eine Insel», hiess es lange Zeit. Mittlerweile hat man das Gefühl, dass uns viele andere Länder um diese Position beneiden. Gilt es, sie mit allen Mitteln zu verteidigen?

Natürlich ist es Aufgabe jeder Regierung und jedes verantwortungsvollen Souveräns – das ist bei uns das Volk –, die eigene Situation zu halten und zu verbessern. Selbstverständlich gibt es immer verschiedene Auffassungen, wie man das am besten bewerkstelligen sollte. Aber Sie zielen vielleicht auf etwas anderes: Ja, ich bin überzeugt, dass zum Reichtum Europas auch die vielen Unterschiede in den politischen Systemen und in den Wirtschaftsordnungen zählen. Diese sollte man nicht ohne Not einebnen, denn davon profitieren alle. Die Schweiz sollte deshalb möglichst eng mit den Nachbarn und mit vielen Staaten auf dieser Welt zusammenarbeiten, aber dabei ihre Eigenständigkeit wahren.

Im Unterschied zu Verbänden wie Economiesuisse beteiligt sich Avenir Suisse nicht aktiv an Vernehmlassungen oder Abstimmungskampagnen. Damit macht man sich in gewissem Sinne weniger angreifbar: Man muss nicht für Niederlagen Erklärungen suchen.

Das könnte man böswillig natürlich so interpretieren, aber die Gründe sind ganz andere: Zum einen ist unser grösster Trumpf unsere völlige Unabhängigkeit – von unseren Geldgebern, von den Parteien und von Sonderinteressen. Diese Unabhängigkeit verliert man, wenn man sich an Kampagnen beteiligt. Zum anderen ist es unsere Aufgabe – und unser Privileg –, eben jenseits des Tagesgeschäfts zu operieren. Würden wir uns nicht daran halten, brauchte es uns nicht, denn für Vernehmlassungen, Kampagnen und Lobbying gibt es eben die Verbände.

Am Wirtschaftsforum sprechen Sie zum Thema «Ideen für die Schweiz. Was unser Land autonom besser machen könnte.» Können Sie uns einen Vorgeschmack geben?

Zu den meistdiskutierten Ideen gehört das Mobility Pricing, also die Bewegung Richtung Kostenwahrheit auf Schiene und Strasse. Und ebenso umstritten – aber ebenso nötig – ist unser Vorschlag, die direkte Demokratie wieder zu verwesentlichen und für Initiative und Referendum höhere Hürden einzuführen.

Dieses Interview erschien im Magazin «Leader - das Unternehmermagazin» 
vom 29. August 2014.
Mit freundlicher Genehmigung vom «Leader».