Der Generationenvertrag ist besonders komplex und zeichnet sich durch wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Altersgruppen aus. Eine einfache Gegenüberstellung von «Jung» und «Alt» würde dieser Komplexität viel zu wenig Rechnung tragen. Es braucht eine differenziertere Betrachtung. Im privaten Bereich erhalten Kinder in der ersten Lebensphase emotionelle und Finanzielle Zuwendungen von den Eltern und Grosseltern, die ihr ganzes I.eben prägen werden. Bildung und Wertvorstellungen, letztlich auch das Einkommen, hängen sehr stark vom familiären Umfeld ab. Menschen in der Erwerbsphase erhalten oft (finanzielle) Unterstützung von ihren Eltern bei der Erziehung der eigenen Kinder. Und es sind auch vor allem Jungrentner, die sich um betagte Verwandte kümmern und vielleicht einmal Kapital von ihnen erben.

Auch ausserhalb der Familie sind die Beziehungen zwischen Altersgruppen vielfältig. Zum Beispiel leisten viele Bürger Freiwilligenarbeit zugunsten Jugendlicher (z.B. Junior- Training im Sport- oder Musikverein), Erwachsener (Weiterbildungsprogramme, Integrationsarbeit) oder der Senioren (Aktivierungsprojeke, Alterspflege). Der Staat stellt auch Personal und Infrastrukturen für die Bildung, die medizinische Versorgung oder die Alterspflege zur Verfügung, die durch alle Erwachsenen – in Form von Steuern oder Krankenkassenprämien – bzw. durch die Erwerbstätigen – in Form von Lohnbeiträgen – finanziert werden.

Der Generationenvertrag im weitesten Sinne umfasst all diese Wechselwirkungen und beinhaltet sowohl Leistungen, die im Bereich der Familie als auch im Bereich der Gesellschaft erbracht werden. Diese Gesamtsicht ist von zentraler Bedeutung, weil sie sowohl rein finanzielle wie nicht-finanzielle Transfers über ein ganzes individuelles Leben hinweg berücksichtigt. Für eine bestimmte Kohorte ist der Vertrag dann fair, wenn der Wert aller Leistungen, die sie über alle Altersstufen hinweg erhält mindestens dem Wert aller Leistungen entspricht, die sie selber erbringt. Diese Fairness-Klausel setzt eine relativ konstante Form der Alterspyramide voraus.

Steigende Lebenserwartung und tiefe Geburtenziffern verändern jedoch die Altersstruktur der Bevölkerung massgeblich. Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, die in den kommenden Jahren in das Pensionsalter kommen, bilden eine Art aufsteigenden Schwimmring, der die Form der vielzitierten «ägyptischen Alterspyramide» zunehmend in eine «römische Amphore» umwandelt. 2015 werden in der Schweiz zum ersten Mal mehr Personen ihren 65. als ihren 20. Geburtstag feiern. Zwanzig Jahre später werden die gleichen Babyboomer zum Teil pflegebedürftig werden, was die Familien, die Zivilgesellschaft und den Staat nochmals auf die Probe stellen wird.

Diese drastische Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten der älteren Altersgruppen stellt eine Herausforderung dar. Zwar bleibt unbestritten, dass die Babyboomer ihren Teil des Generationenvertrags bisher geleistet haben. Sie haben sich für ihre Kinder und ihre Eltern engagiert und erwarten ein «Return on Investment». Aufgrund ihrer immensen Zahl im Vergleich zu jüngeren Kohorten wird dieses «Return» allerdings eine ausserordentliche zeitliche und finanzielle Zusatzbelastung für die künftige Erwerbsbevölkerung verursachen. Für diese Kohorten wird sich die Leistungsbilanz massiv verändern.

Breite Vertragsrevision nötig

Massnahmen, die eine Erhöhung der Kinderzahl anstreben, bieten keine Lösung. Die Babyboomer werden bereits pensioniert bzw. pflegebedürftig sein, bevor die ab heute geborene Generation in der Lage ist, die Probleme dieser älteren Kohorten zu lösen. Die Migration kann die Entwicklung dämpfen, aber nicht aufhalten. Wollte man den Quotienten der Pensionierten zu den Erwerbstätigen konstant halten, müsste die Netto-Immigration während der nächsten zwanzig Jahre 135 000 Personen pro Jahr betragen, fast zweieinhalb Mal so viel wie in den vergangenen zehn Jahren. Eine breit angelegte Revision des Generationenvertrags drängt sich auf. Dafür braucht es ein Bouquet an Massnahmen, die auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen wirken und sich gegenseitig ergänzen. Dabei sollten drei Stossrichtungen besonders hervorgehoben werden.

Erstens sollte eine tragbare Belastung der aktiven Generation sichergestellt werden. Die erwerbstätige Generation befindet sich zunehmend im «Sandwich» zwischen der Betreuung der eigenen Kinder und der Pflege der eigenen Eltern. Letztere können durch altersgerechtes Wohnen ihre Selbständigkeit stärken und damit ihre Kinder entlasten. Auch die grösseren geografischen Distanzen zwischen Familienmitgliedern und unregelmässige Arbeitszeiten setzen die Erwerbsbevölkerung unter Druck: Flexible Arbeitszeitmodelle können die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erhöhen. Generationenprojekte und «Zeitbörsen» helfen zudem, Ressourcen auch ausserhalb der Familie zu mobilisieren. In der Pflege sollten ambulante und stationäre Ressourcen effizienter eingesetzt werden, wobei sich eine neue Rollenverteilung zwischen Familienmitgliedern und Fachpersonen abzeichnet: Erstere leisten Hilfe, letztere Pflege.

Zweitens sollte die finanzielle Handlungsfähigkeit künftiger Generationen erhalten bleiben und nicht durch Schuldenberge eingeschränkt werden. Im Generationendiskurs ist die Betrachtung der Schulden nicht pro Kopf, sondern pro Kind angebracht. Diese liegen in der Schweiz bei 175 000 Franken – mit starken Unterschieden zwischen den Kantonen (von 106 000 Franken in Appenzell Innerrhoden bis 319 000 Franken in Genf). Schulden sind dann generationengerecht, wenn sie Leistungen wie Infrastrukturen finanzieren, von denen nachkommende Generationen profitieren können. Doch ein beträchtlicher Teil der (künftig noch wachsenden) Schweizer Schulden wird nicht für Investitionen verwendet, sondern für gesetzlich vorgesehene Konsumleistungen, deren Finanzierung nicht geklärt ist – zum Beispiel in der Altersvorsorge: Hier kann die finanzielle Nachhaltigkeit durch ein höheres Rentenalter, durch eine Schuldenbremse in der AHV und eine flexible Festlegung des BVG-Umwandlungssatzes erreicht werden.

Drittens besteht in der Finanzierung der Alterspflege grosser Handlungsbedarf. Wer im Rentenalter seinen Lebensunterhalt nicht mehr eigenständig bestreiten kann, hat – unabhängig vom eigenen «Verschulden» – Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL). Diese Regelung soll jedem im Alter ein Leben in Würde gewähren. Das ist auch gut so. Doch dies kann dazu führen, dass die Mittel der Altersvorsorge (AHV BVG, 3. Säule) nicht für alle Kosten im Alter, inkl. Alterspflege, angespart werden, sondern lediglich für «die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise» (Art. 113 BV), womit zunehmend «bei guter Gesundheit» gemeint ist. Im Pflegefall reicht das private Vermögen oft nicht mehr und die öffentliche Hand muss einspringen. Diese Regelung der Pflegefinanzierung wird von vielen als unfair empfunden.

Neues Alterspflegekapital

Zur Beseitigung der oben skizzierten Fehlanreize schlägt Avenir Suisse die Bildung eines persönlichen, obligatorischen Pflegekapitals vor, das durch folgende Merkmale charakterisiert wird:

  • Finanzierung: Die Finanzierung sollte im Kapitaldeckungsverfahren erfolgen. Jeder Versicherte kumuliert seine einbezahlten Prämien, die er im Pflegefall verwenden kann, auf einem individuellen Konto. Es findet keine Umverteilung statt. Im Todesfall können die nicht eingesetzten Sparkapitalien vererbt werden. Damit wird indirekt das Engagement der Familienmitglieder, die durch ihre Pflegetätigkeit die Pflegekosten niedrig halten, honoriert. Die Prämienhöhe müsste so ausgelegt werden, dass sie die Finanzierung eines durchschnittlichen Heimaufenthaltes (946 Tage bei Eintrittsalter 81,4 Jahre) sichern kann.
  • Leistungsberechtigte: Von den angesparten Geldern können alle versicherten Senioren Leistungen beziehen, die einen hohen, ärztlich festgelegten Pflegebedarf, zum Beispiel von mindestens 60 Minuten Pflege pro Tag, nachweisen. Leistungen können ambulant (Spitex), semi-stationär (Tages- und Nachtstrukturen, Demenz-Wohngemeinschaften) oder stationär in Pflegeheimen erbracht werden.
  • Versicherungspflicht: Die Versicherung ist als Obligatorium konzipiert. Eine freiwillige Versicherung würde sonst von Beziehern tiefer und mittlerer Einkommen nicht abgeschlossen, weil ihnen heute die Ergänzungsleistungen die Finanzierung von Pflegekosten de facto garantieren. Die Versicherungspflicht beginnt erst im fortgeschrittenen Alter, zum Beispiel mit 55 Jahren. Damit wird die «Sandwich-Generation» gezielt entlastet.
  • Leistungsumfang. Die Versicherung deckt sowohl Pflege- als auch Betreuungsleistungen, die mittels Pauschale pro Pflegestufe abgegolten werden. Dank der Kombination von Pflege- und Betreuungsleistungen entfällt der Bedarf einer akribischen und zum Teil arbiträren Leistungserfassung für die Krankenkassen. Damit wird qualifiziertes Pflegepersonal von administrativen Tätigkeiten entlastet und kann mehr Zeit mit den Patienten verbringen. Davon profitieren Patienten und Fachpersonen. Die Kosten für die Hotellerie werden bewusst nicht eingerechnet, um keine Anreize für Essensdienste oder Heimeintritte zu schaffen.
  • Organisation: Die Verwaltung sollte dezentral erfolgen, damit einerseits Wettbewerb entsteht und andererseits die Anlagerisiken auf verschiedene Institutionen diversifiziert werden. Bestehende Organisationen wie Krankenkassen oder Pensionskassen könnten dafür in Frage kommen. Diese besitzen die nötige Infrastruktur und das Know-how für das Prämieninkasso, die Leistungsabrechnung und die Vermögensverwaltung. Denkbar wäre aber auch die Schaffung neuer Gesellschaften, die sich im Rahmen einer Lizenzvergabe für diese Aufgabe bewerben müssten.

Die durchschnittlichen Pflege- und Betreuungskosten (ohne Hotellerie) in einem Pflegeheim betragen 134 000 Franken. Daraus resultiert eine monatliche Sparprämie von 285 Franken. Dies mag auf den ersten Blick hoch erscheinen. Doch diese Zahl darf nicht mit der heutigen Situation verglichen werden. In absehbarer Zeit werden aufgrund der Pflegebedürftigkeit der Babyboomer zusätzliche Kosten entstehen, die entweder über erhöhte Krankenkassenprämien oder Steuern finanziert werden. Eine zusätzliche Zwangsfinanzierung wird also so oder so erfolgen: im gesetzlichen Status quo über intransparente Umverteilungen, in unserem Modell über die Pflicht zur Eigenvorsorge.

Auch wird heute ein grosser Teil der vorgeschlagenen Monatsprämien über andere Kanäle finanziert, die dementsprechend angepasst werden müssen. So werden derzeit ca. 130 der 285 Franken von den Krankenkassen getragen. Für diesen Anteil wäre die Einführung des Vorsparens kostenneutral, weil die Krankenkassenprämien im gleichen Umfang gesenkt werden müssten. Für die restlichen Pflegekosten (ca. 110 Franken) kommt die öffentliche Hand auf. Diese Kosten würden nun durch die Haushalte direkt getragen. Entsprechend müssten die Steuern für natürliche Personen sinken – am besten durch eine Reduktion des Steuerfusses für alle Bürger. Da es der Politik häufig schwer fällt, hinfällige Ausgaben in Form einer nachhaltigen Steuerreduktion zu kompensieren, ist eine Abziehbarkeit der Altersvorsorgeprämie als Zweitbestlösung denkbar.

Solidarität sichergestellt, aber subsidiär

Das vorgeschlagene Modell sieht eine stärkere Eigenverantwortung für die Finanzierung der Altersvorsorge vor. Im Gegenzug ermöglicht es mehr Wahlfreiheit. Nur eine Mindestpflegebedürftigkeit wird für die Auszahlung der Leistungen vorausgesetzt. Der Patient bestimmt hingegen selber den Leistungserbringer, der am besten seinen Erwartungen entspricht und seine finanziellen und familiären Ressourcen ergänzt. Eigenleistungen werden honoriert, weil die nicht verbrauchten Kapitalien vererbt werden. Damit wird ein Anreiz zum schonenden Umgang mit Pflegegeldern gesetzt.

Der Aufbau eines Pflegekapitals sollte aber auch solidarische Elemente beinhalten. Reichen die Mittel für die Pflegekosten nicht aus, könnten die Restkosten entweder durch eine kollektive Risikoprämie oder, wie heute, mit dem restlichen Privatvermögen des Patienten bzw. von der öffentlichen Hand bezahlt werden. Kann eine Person die Prämie nicht selber finanzieren, sollte der Staat, analog zur heutigen Regelung der individuellen Prämienverbilligungen (IPV), diese teils oder ganz übernehmen. Heute profitiert ein Drittel der Bevölkerung von der IPV, davon sind vier von fünf jünger als 55. Die Einfürung der Versicherungspflicht ab diesem Alter würde die IPV entlasten und Mittel für die Pflegekapitalprämien freisetzen.

Mit diesen Vorkehrungen bliebe ein soziales, kollektiv finanziertes Auffangnetz bestehen. Es käme jedoch nur subsidiär zum Zug. Der Staat würde nach wie vor schicksalhafte Ungleichheiten auffangen. Übermässiger Konsum im Alter, der zu einer Kollektivierung der Pflegekosten führen könnte, würde so aber weniger gefördert. Das neue System würde dafür Weichen setzen, damit jede Kohorte selbst für ihre Pflegekosten aufkommt, die Wahlfreiheit zwischen den Leistungserbringern erhöhen und Anreize für einen schonenden Umgang mit Pflegeressourcen setzen.

Dieser Artikel erschien im «Vorsorge Guide» vom 25.09.2014.