Sven Millischer: Die Post wird zum Möbellieferanten, Swisscom ist einer der grössten IT-Anbieter und die SRG konkurrenziert im Internet andere Newsanbieter. Täuscht der Eindruck, dass staatsnahe Betriebe in immer mehr Bereiche der Privatwirtschaft expandieren?

Urs Meister: Wir sehen diese Entwicklung in allen Grundversorgungsbranchen, weil der ursprüngliche Service public vor allem aufgrund der technischen Entwicklung an Relevanz verliert. Die staatsnahen Betriebe positionieren sich neu und erschliessen zusätzliche Ertragsquellen. Der Staat als Aktionär fördert oft solche Expansionen, da er mit seinen Beteiligungen auch finanzielle Ziele verfolgt.

Was sind die Treiber der Expansion?

Es geht um Verbund- und Skaleneffekte. In einer zunehmend digitalisierten Wirtschaft gewinnen die Fixkosten an Bedeutung. Die Service-public-Anbieter können bestehende Infrastrukturen und Systeme besser auslasten und verfügen gleichzeitig über eine sehr breite Kundenbasis. Damit sind sie gegenüber privaten Dritten oft im Vorteil.

Sie haben schon lange gegen die staatsnahe Expansion angeschrieben. Fühlen Sie sich als einsamer Rufer in der Wüste?

In der Tat. Doch privaten Akteuren wird zunehmend bewusst, dass neue staatliche Konkurrenten am Start sind. Konkurrenten, die von einer mehr oder weniger expliziten Staatsgarantie, Restmonopolen und potenziellen Quersubventionierungen profitieren können.

Avenir Suisse hat vor zwei Jahren ein Buch zum Service public veröffentlicht. Darin werden die von Ihnen angetönten Marktverzerrungen detailliert besprochen. Was hat sich seither getan?

Die Situation hat sich verschärft. Die Politik tendiert dazu, die Definition des Service public immer breiter zu fassen. Zum Beispiel, indem die Politik über die Unternehmensstrategie von Elektrizitätsunternehmen die Energiewende vorantreiben will. Oder wenn Lokalpolitiker fordern, der Kanton als Aktionär soll das Filialnetz der hiesigen Kantonalbank stärken. Solche ordnungspolitisch kritischen Aufträge sind nur möglich, wenn die staatsnahen Betriebe einen noch stärkeren Wettbewerbsschutz geniessen oder gezielt subventioniert werden. Dies führt in beiden Fällen zu Marktverzerrungen.

Wie liessen sich solche Marktverzerrungen verhindern?

Die Schweiz könnte etwa ein Beihilferecht einführen, ähnlich wie dies die Europäische Union kennt. Dies würde es privaten Unternehmen erlauben, rechtlich einfacher gegen staatliche Konkurrenten vorzugehen, die von Überkompensationen oder Subventionen profitieren. Das bestehende Kartellrecht alleine bildet hierfür keine adäquate rechtliche Grundlage.

Wer die Post, SRG oder Swisscom in die Schranken weisen möchte, der setzt sich automatisch dem Verdacht aus, den Service public abbauen zu wollen.

Die staatsnahen Betriebe sind längst in Bereiche expandiert, die man nicht mehr als Grundversorgung bezeichnen kann, sondern als kommerzielle Dienstleistungen. Zugleich hat sich die klassische Definition von Service public überholt. Bei der Post beispielsweise verliert die Beförderung von Briefen an Bedeutung. Die Volumen schrumpfen zugunsten elektronischer Mails.

Gibt es eigentliche Beispiele eines Service public ohne Wettbewerbsverzerrungen?

Ja, schliesslich lässt sich Service public auch in einem wettbewerblichen System organisieren. Wann immer möglich, sollte der Staat wettbewerbliche Ausschreibungen für die Erbringung bestimmter Leistungen machen. Dadurch wird eine Überkompensation verhindert, wodurch gleichzeitig das Potenzial von Quersubventionen in andere Geschäftsfelder reduziert wird.


Dieses Interview erschien in der «Handelszeitung» vom 30. Oktober 2014.
Mit freundlicher Genehmigung der «Handelszeitung».