Christa Rosatzin: Herr Müller-Jentsch, was ist das Ziel von Mobility Pricing?

Daniel Müller-Jentsch: Die Grundidee ist eigentlich banal: Mobility Pricing soll Kostenwahrheit, mehr Benutzerfinanzierung im Strassenverkehr und eine intelligente Verkehrslenkung über finanzielle Anreize bringen. Wir wollen den Kostendeckungsgrad der Verkehrsträger erhöhen, das heisst, der Benutzer soll stärker an den Kosten beteiligt werden. Zudem sollen die Preise differenziert ausgestaltet werden. Wir haben zurzeit auf Strasse und Schiene uniforme Tarife – diese werden Stausituationen und Engpässen nicht gerecht.

Ist die Mobilität in der Schweiz generell zu günstig?

Ja, ganz klar. Ein Indiz dafür ist alleine schon das rasante Verkehrswachstum: In den 2000er-Jahren ist die Bevölkerung in der Schweiz um 10 % gewachsen, das BIP um 20 %. Im gleichen Zeitraum hat der Verkehr auf der Nationalstrasse um 40 % und der Personenverkehr auf der Schiene um 50 % zugenommen. Der Verkehr ist also vier- bis fünfmal so schnell gewachsen wie die Bevölkerung und zwei- bis zweieinhalb Mal so stark wie die Wirtschaft. Diese Zahlen zeigen, dass sich die Mobilitätsnachfrage von den zugrunde liegenden demographischen und wirtschaftlichen Grunddaten entkoppelt hat. Durch Subventionen provozieren wir eine Übermobilität.

Wieweit deckt der Verkehr seine Kosten?

Die Berechnungen des Bundes zeigen, dass weder Schiene noch Strasse ihre Kosten selber decken. Das bedeutet, dass der Eigenfinanzierungsgrad bei der Bahn etwa 41 % beträgt, fast 60 % zahlt der Steuerzahler. Bei der Strasse ist der Kostendeckungsgrad höher. Aber wenn man die externen Kosten mitberücksichtigt, die durch Staus, Unfälle oder Luftverschmutzung verursacht werden, sieht die Situation anders aus. Dann hat auch die Strasse keinen Kostendeckungsgrad von 100 %. Die externen Kosten wurden kürzlich vom Bundesamt für Raumentwicklung neu berechnet. Sie gehen in die Milliarden. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass verdeckte Subventionsströme in dieser Rechnung nicht enthalten sind. Dazu gehört zum Beispiel der Pendlerabzug bei der Steuer; er summiert sich auf 1 bis 2 Mrd. Fr. pro Jahr. Den echten Kostendeckungsgrad der Strasse zu berechnen, ist sehr schwierig. Gemäss Transportrechnung des Bundes liegt er bei etwa 90 %.

Ist es realistisch, mit Mobility Pricing auch die externen Kosten zu decken?

Das sollte zumindest das Ziel sein. Denn die externen Kosten sollten vom Nutzer bei seinen Mobilitätsentscheidungen auch berücksichtigt werden. Deshalb sollten sie über den Preis internalisiert werden.

Befürworten Sie eine Quersubventionierung von der Strasse zu Schiene?

Die Verkehrsträger Strasse und Schiene ergänzen sich sehr gut, sie bilden ein Gesamttransportsystem. Es gibt ein Gleichgewicht, das historisch gewachsen ist. Wenn wir einseitig einen Verkehrsträger be- oder entlasten, verschieben wir die relativen Preise und es gibt Ausweichbewegungen, die derzeit nicht zu bewältigen wären. Beide Systeme sind heute weitgehend am Anschlag, sie haben ihre Kapazitätsgrenzen in vielen Bereichen erreicht. Eine Verschiebung von Verkehrsströmen zwischen den Verkehrsträgern würde neue Probleme schaffen. Preiserhöhungen müssten deshalb möglichst synchron erfolgen. Und dabei sollten wir eine gewisse Querfinanzierung beibehalten. Das ist wegen der externen Kosten im Strassenverkehr bis zu einem gewissen Grad auch sinnvoll.

Um wieviel müssten die Preise denn steigen?

Es geht nicht in erster Linie um die Erhöhung der Tarife, sondern vielmehr um deren Ausdifferenzierung. Wir haben Infrastrukturen mit sehr hohen Fixkosten und gleichzeitig eine sehr ungleichmässig ausgelastete Kapazität. Im Bahnverkehr ist die Sitzplatzauslastung durchschnittlich 32 % im Fernverkehr und 20 % im Regionalverkehr. Trotzdem haben die Nutzer das Gefühl, das System sei kurz vor dem Kollaps, wenn sie an Werktagen in den Stosszeiten unterwegs sind. Auf eine solche variable Nachfrage bei gleichzeitig hohen System und Fixkosten würde der freie Markt anders reagieren als unsere Verkehrspolitiker. Wir haben für die zwei- bis dreistündigen Spitzen immer wieder neue Kapazität geschaffen mit Milliardeninvestitionen. Im freien Markt würde die Nachfrage über differenzierte Tarife gleichmässiger über die Zeit und über die Strecken verteilt. Dies ist in der Hotellerie und im Fluggeschäft heute selbstverständlich und niemand beschwert sich darüber. Die Swiss hat zum Beispiel eine Sitzplatzauslastung von 81 %. Das ist natürlich nicht direkt vergleichbar– der Flugverkehr ist kein Service Public. Aber wir sollten trotzdem zu einer Preisdifferenzierung kommen. Es braucht höhere Preise in der Rushhour und niedrigere in den Talzeiten.

Im öffentlichen Verkehr kann dies mit unterschiedlichen Billetpreisen gelöst werden. Welche Konzepte gibt es für die Strasse?

Tarifdifferenzierung im Strassenverkehr nach Strecken und Zeiten ist schwieriger als bei der Bahn. Es müssten Mautsysteme eingesetzt werden, deren Einführung relativ teuer ist. Diesen Weg sollten wir erst gehen, wenn die Möglichkeiten im bestehenden System ausgeschöpft sind. Zurzeit kommt die Benzinsteuer dem Konzept des Mobility Pricing am nächsten. Wir halten eine Erhöhung, wie sie im Moment vom Bundesrat angedacht ist, für sinnvoll, weil dies die Mobilität streckenabhängig und emissionsbezogen verteuern würde. Aber Staus können wir damit nicht gezielt verhindern. Hier wären punktuelle Bemautungssysteme ein erster Schritt, zum Beispiel Citymauts in Zürich oder Genf. Stockholm erhebt bereits seit 2007 eine zeitlich differenzierte Maut zur Einfahrt in die Innenstadt. Diese Massnahme hat die Stausituation deutlich und dauerhaft entspannt. Die Bevölkerung von Stockholm war vor der Einführung mehrheitlich dagegen, heute jedoch herrscht eine Zustimmungsrate von 70 %, weil Anwohner und Autofahrer die Entlastung spüren. Eine andere relativ günstige Möglichkeit sind Tunnelgebühren. Wir haben beispielsweise vorgeschlagen, die zweite Röhre des Gotthardtunnels durch eine Maut zu finanzieren. Angesichts der grossen Investitionen von 2 bis 3 Mrd. Fr. wäre dies gerechtfertigt. Zudem gibt es am Gotthard sehr viel Transitverkehr, der externe Kosten für die Schweiz verursacht. Mit einer differenzierten Bemautung könnte zudem der Staubildung entgegengewirkt werden. Ich denke, die meisten Autofahrer wären bereit, 20 Fr. für die Durchfahrt des Gotthardtunnels zu bezahlen, wenn sie dafür in ihren Osterferien nicht drei Stunden im Stau stehen müssten.

Gegner führen an, dass 30 % der Einnahmen solcher Systeme in die Infrastruktur fliessen würden? Rentiert das langfristig?

Die Systemkosten müssen verhältnismässig sein. Das Mautsystem, das zurzeit in Deutschland diskutiert wird, ist nicht sinnvoll – denn es bringt wenig Mehreinnahmen im Verhältnis zu den Einführungs- und Unterhaltkosten. Doch es gibt durchaus sehr schlanke Systeme. Ein gutes Beispiel ist die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe, die etwa 1,5 Mrd. Fr. Einnahmen pro Jahr generiert. Die Unterhaltskosten belaufen sich auf ca. 100 Mio. Fr. pro Jahr, also weniger als 10 % der Einnahmen. Bei Installationen für punktuelle Mautsysteme erreicht man heute nicht so geringe Systemkosten. Aber die technologische Entwicklung ist rasant, es gibt innovative Ansätze. In Österreich kann ich zum Beispiel für die Sondermaut auf den Autobahnen mit dem Smartphone ein Billet lösen. In den nächsten Jahren wird sich da viel bewegen – punkto Benutzerfreundlichkeit, aber vor allem auch punkto Kosten.

Plädieren Sie für die Einführung einer flächendeckenden Strassenmaut?

Langfristig halten wir das für die sinnvollste Lösung. Mit dem Aufkommen der Elektro-Automobile erodiert eine wichtige Finanzierungsbasis, die Mineralölsteuer. Wir müssen nur schon deshalb über einen Systemwechsel nachdenken. Kurzfristig reicht eine moderate Erhöhung des Benzinpreises, mittelfristig braucht es punktuelle Bemautungssysteme und langfristig schwebt uns eine flächendeckende Strassenmaut vor. Bis dann werden auch die technischen Systeme deutlich günstiger sein. Im Gegenzug müssten andere Gebühren wie die Vignette oder die Motorfahzeugsteuer abgeschafft werden. Langfristiges Ziel ist ein vereinfachtes, transparentes und streckenabhängiges Gebührensystem.

Abstimmungen zeigen, dass die Akzeptanz für Mobility Pricing, insbesondere für Road Pricing, nicht sehr hoch ist. Woran liegt das?

Bei solchen Themen ist es natürlich einfach, mit simplen Parolen zu politisieren. Intelligente Lösungen zu vermitteln, ist weitaus schwieriger. Wir müssen der Bevölkerung den Nutzen von Mobility Pricing aufzeigen. In den letzten zehn Jahren haben sich die Staustunden auf den Nationalstrassen verdoppelt, die Belastung des öV in Spitzenzeiten nimmt zu und die Kosten für die Steuerzahler werden immer höher. Wir müssen den Nutzern vermitteln, dass Mobility Pricing diese Probleme lösen kann und dass das Konzept netto keine Mehrbelastung bringt. Wenn wir dies schaffen, findet Mobility Pricing Akzeptanz.

Keine Mehrbelastung? Sie haben gesagt, Mobilität sollte teuer werden. Ist das nicht ein Widerspruch?

Für den Nutzer, der auch Steuerzahler ist, wird es insgesamt nicht teurer, sondern günstiger. Unser Ziel ist, die Gesamtkosten des Mobilitätssystems zu verringern. Dazu das Beispiel der Nationalstrassen: Der Verkehr hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Wenn dieses Wachstum anhält – davon gehen die Fachleute aus – müssen wir das Nationalstrassennetz mit hohen zweistelligen Milliardenbeträgen ausbauen. Wenn wir aber mit höheren und differenzierten Tarifen drosselnd auf den Verkehr einwirken, können wir auf einen Teil des Ausbaus verzichten und so die Kosten für den Strassenverkehr insgesamt verringern.

Das heisst, kurzfristig wird die Mobilität teurer aber langfristig ist eine Kosteneinsparung zu verzeichnen?

Im Vergleich zu heute wird es nicht billiger werden, aber im Vergleich zum Alternativszenario, also der Fortschreibung des Status Quo. Wir laufen in eine Situation hinein, in der wir gigantische Investitionen stemmen müssen, wenn wir die Systeme an das Wachstum anpassen wollen. In den 60er-Jahren wurde das Nationalstrassennetz sehr grosszügig auf Wachstum ausgerichtet. Von dieser überschüssigen Kapazität haben wir in den letzten Jahrzehnten profitiert. Bis 2030 stehen geschätzte 45 Mrd. Fr. allein für den Ausbau des Nationalstrassennetzes an. Diese Kostenexplosion müssen wir in den Griff bekommen. So können wir den Bürger dreifach entlasten: Es gibt weniger Staus, wir brauchen weniger Steuergelder und die externen Kosten gehen zurück.

Was ist Ihre Prognose? Werden wir in der Schweiz bald ein Mobility Pricing haben?

Wir werden uns schrittweise in diese Richtung bewegen. Das grosse Umdenken findet vermutlich aber erst statt, wenn das heutige System soweit an seine Grenzen stösst, dass es für alle täglich spürbar wird oder dass es so nicht mehr finanzierbar ist. Dann hat die Politik keine Wahl. Sie muss diese unangenehme Wahrheit der Bevölkerung vermitteln.

Wann wird das soweit sein?

Es gibt schon heute Anzeichen eines Umdenkens und es existieren durchaus erfolgreiche Beispiele für Mobility Pricing. Ich denke zum Beispiel an die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe LSVA. Sie differenziert nach Strecke, Emissionsklasse und Gewicht des Fahrzeugs. Die LSVA hat zu einem Trendbruch im Wachstum beim Transitverkehr geführt und seit ihrer Einführung 15 Mrd. Fr. Einnahmen eingespielt. Diese sind in die Verkehrsinfrastruktur geflossen und haben den Steuerzahler entlastet. Die LSVA ist ein gutes Beispiel dafür, dass Mobility Pricing intelligent konzipiert werden kann und dass das Konzept hilft, Verkehrsprobleme zu lösen.

Dieses Interview erschien in der Publikation der Strassenbranche «Strassenverkehr Schweiz» von 2014. 
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Kömedia.

Weitergehende Informationen zu diesem Thema finden Sie im Diskussionspapier «Mobility Pricing: Wege zur Kostenwahrheit im Verkehr».