Martin Wilhelm: Herr Schellenbauer, wie weit sind wir heute von einer Lösung der Zuwanderungsfrage entfernt?«»

Patrik Schellenbauer: Eigentlich gleich weit wie vor einem halben Jahr. Es ist auch heute noch nicht absehbar, in welche Richtung die Lösung gehen wird. Es gibt eine starke Strömung, die den Entscheid vom 9. Februar mit einer neuen Volksabstimmung umstossen möchte und sich nach dem massiven Ecopop-Nein bestärkt fühlt. Ein anderer Teil des politischen Spektrums fordert eine strenge Umsetzung gemäss Wortlaut, will damit aber in erster Linie die Beziehungen zur EU torpedieren. Neben vielen, die wie wir eine pragmatische Lösung suchen, gibt es nicht wenige, die einen «pädagogischen» Ansatz verfolgen. Sie setzen auf eine wortgetreue Umsetzung, in der Hoffnung, dass sich diese als nicht praktikabel erweisen wird und der unliebsame Entscheid daraufhin korrigiert wird.

Vertritt Ihrer Ansicht nach auch der Bundesrat diesen pädagogischen Ansatz?

Man muss abwarten, ob im Vernehmlassungsbericht neben dem wortgetreuen Vorschlag noch eine flexiblere Variante enthalten sein wird. Der Widerspruch in der bisherigen offiziellen Haltung ist aber offensichtlich: Einerseits will man die Bilateralen nicht aufgeben – andererseits weiss man, dass eine Umsetzung über bürokratische Kontingente nicht mit der Personenfreizügigkeit kompatibel ist. Der Bundesrat hat sich mit seinem Entwurf vom Juni 2014 aber für eine strenge Umsetzung ausgesprochen. Eine wortgetreue Umsetzung würde den Spielraum bei den Verhandlungen mit der EU stark einengen.

Sie selber vertreten mit Avenir Suisse die Idee eines Globalziels. Ein solches könnte lauten, dass die Bevölkerung bis 2025 nicht auf über 9 Millionen Personen anwachsen darf. Dies würde dem Wortlaut der Initiative aber deutlich widersprechen.

Eine Umsetzung nach Buchstaben garantiert keineswegs, dass dem «Volkswillen» entsprochen würde, denn man könnte die Kontingente so hoch ansetzen, dass sie nichts bewirken. Das wäre einfach eine Schlaumeierei. Wir sind überzeugt, dass ein langfristiges Globalziel oder eine ähnliche Lösung dem Wunsch der Mehrheit am besten entspräche. Die Abstimmung vom 9. Februar hat gezeigt, dass die Mehrheit eine Mässigung der Einwanderung und eine gewisse Kontrolle darüber wünscht. Gleichzeitig ist sich die Bevölkerung bewusst, dass sie von der Offenheit der Schweiz profitiert. Einen forcierten Bruch mit der EU will sie nicht, was die Ecopop-Abstimmung überdeutlich zeigte.

Ihr Vorschlag sieht vor, dass strikte Kontingente greifen, wenn das Globalziel nach fünf Jahren verfehlt wird. Um dem zu entgehen, müsste die Wirtschaft die Zuwanderung durch Selbstregulierung drosseln. Ist das wirklich realistisch?

Wir schlagen ja eigentlich einen «Zuckerbrot-und-Peitsche-Ansatz» vor. Die Aussicht auf strikte Kontingente nach fünf Jahren wäre ein starker Anreiz, auf Verbandsebene zusammenzusitzen und Lösungen zu suchen. Und schliesslich darf nicht vergessen werden, dass mehr als die Hälfte der Jobzuwanderung zum Staat selbst oder zu staatsnahen Sektoren wie Spitälern oder dem Service public ging. Damit ist die Politik eigentlich noch mehr als die Unternehmen gefordert, eine Mässigung herbeizuführen. Das sollte möglich sein.

Sie stehen ja mit Wirtschaftsvertretern in Kontakt. Signalisieren diese Bereitschaft, sich freiwillig zu beschränken?

Bisher hielt man sich zurück, ist sich der Problemlage aber durchaus bewusst. Doch es gibt auch Stimmen, die sagen, eine Lösung in unserem Sinne könnte durchaus funktionieren. Ich vertraue auf die Kreativität, aber auch auf das Eigeninteresse der Unternehmen. Sie werden aber nicht handeln, solange unsicher ist, in welche Richtung es geht.

Neben der Wirtschaft wollen Sie die Politik in die Pflicht nehmen. So sollen die Kantone auf Förderbeiträge und Steuervergünstigungen für ausländische Unternehmen verzichten. Auch hier stellt sich die Frage, ob dies realistisch ist.

Wir befinden uns in dieser Frage in einer Art kognitiver Dissonanz. Auf der einen Seite möchte man keine Zuwanderung im jetzigen Ausmass mehr, auf der anderen Seite ist aber niemand bereit, dafür auf etwas zu verzichten, vor allem nicht, wenn es um regionale Interessen geht. Wir möchten gleich vorteilhafte Bedingungen für alle Firmen, egal ob diese zuziehen, neu gegründet werden oder schon lange hier sind. Darum sollte man auf alle Sonderregelungen verzichten, die zuziehende Firmen einseitig bevorteilen. In vielen Fällen sind die nötigen Arbeitskräfte in der Schweiz gar nicht vorhanden. Solche «subventionierten» Ansiedlungen verstärken den Zuwanderungssog fast eins zu eins.

Dass niemand zu einem Verzicht bereit ist, zeigt sich auch bei der aktuellen Auseinandersetzung über die Kontingente für Fachkräfte aus Drittstaaten zwischen Bund und Kantonen. Letztere kritisieren die vom Bundesrat beschlossene Reduktion der Kontingente für Fachkräfte aus Drittstaaten.

Dies ist ein gutes Beispiel dafür, worauf Kontingente hinauslaufen: auf einen politischen Verteilkampf. Werden starre bürokratische Kontingente eingeführt, wird sich der politische Prozess lange und heftig darum drehen, wer in deren Genuss kommt. Dies wird in Politik und Wirtschaft viele Ressourcen binden und birgt darüber hinaus ein noch viel grösseres Problem.

Nämlich?

Aus dem Verteilkampf wird mit hoher Sicherheit ein Ergebnis hervorgehen, das strukturerhaltend und verzerrend ist. Es ist zu befürchten, dass wiederum jene Branchen und Regionen profitieren, die Strukturprobleme haben. Strukturerhaltung über staatliche Zuwanderungspolitik war einer der Gründe, warum die Rezession nach dem Erdölschock in den 70er-Jahren in der Schweiz viel heftiger ausfiel als in anderen Ländern. Über diese Kosten wird heute viel zu wenig gesprochen. Dabei ist dies eigentlich das allerwichtigste Argument gegen Kontingente. Sie sind letztlich ein Griff in den ökonomischen Giftschrank.

Suchen Sie nun aktiv nach Verbündeten für Ihren Vorschlag?

Wir haben unseren Vorschlag den politischen Parteien und vielen Verbänden vorgestellt. Letztlich kann und will sich Avenir Suisse aber nicht in die Tagespolitik einmischen. Unsere Aufgabe ist es, 20 Jahre vorauszudenken und gute Ideen zu kreieren.

Glauben Sie, dass sich eine Allianz für eine flexible Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative bei gleichzeitigen Massnahmen zur sinnvollen Drosselung des Wachstums finden wird?

Aufgrund vieler Gespräche bin ich nach wie vor optimistisch, dass sich eine Allianz für eine vernünftige Lösung finden wird. Der Zeitpunkt rückt näher, an dem die politische Taktik einer konstruktiven Lösungsfindung Platz machen wird.

Dieses Interview erschien im «Tages-Anzeiger» vom 5. Dezember 2014.
Mit freundlicher Genehmigung des Tages-Anzeigers.