Anregung für eine Grundsatzdiskussion über das Milizsystem: Gerhard Schwarz, Theo Wehner, Sarah Bütikofer, Hans Geser, Martin Heller, Andreas Ladner, Andreas Müller und Georg Kohler (v. links).

Anregung für eine Grundsatzdiskussion über das Milizsystem: Gerhard Schwarz, Theo Wehner, Sarah Bütikofer, Hans Geser, Martin Heller, Andreas Ladner, Andreas Müller und Georg Kohler (v. links) an der Buchvernissage.

Mehr als zwei Drittel der Schweizer bekennen sich zum Milizsystem – und dennoch nimmt die Bereitschaft zur Milizarbeit kontinuierlich ab. Mit dem neuen Buch «Bürgerstaat und Staatsbürger – Milizpolitik zwischen Mythos und Moderne» will Avenir Suisse deshalb eine breite Diskussion über den traditionell tragenden Pfeiler des Schweizer Politsystems anregen. «Auch in Zukunft sollen die Bürger nicht nur abstimmen, sondern selbst Exekutivämter übernehmen. Selbst wenn sie keine Experten sind», betonte Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz an der Buchvernissage.

Vizedirektor und Herausgeber Andreas Müller nannte bei seiner einleitenden Präsentation die Ursachen für das schwindende Engagement der Bürger. Sie liegen in der Individualisierung der Gesellschaft und in den steigenden (zeitlichen) Anforderungen bei gleichzeitig sinkender Anerkennung für die Milizämter. In den anschliessenden Kurzpräsentationen stellten mit Sarah Bütikofer (Universität Zürich), Andreas Ladner (Université de Lausanne), Theo Wehner (ETH Zürich), Georg Kohler (Universität Zürich), Martin Heller (Heller Enterprises) und Hans Geser (Universität Zürich) sechs Koautoren ihre Analysen und Gedanken zum Milizsystem dar.

Schleichende Professionalisierung

Seit Jahren haben sich die Schwierigkeiten der Gemeinden, ihre Milizämter mit geeigneten Personen zu besetzen, verschärft. Doch die bisher punktuell eingeleiteten Reformen haben gemäss Andreas Müller nicht die erwünschte Trendwende eingeleitet, sondern zu einer schleichenden Professionalisierung oder zu einer Entwertung der Ämter geführt. Zwei Beispiele: Indem, weil die Besetzung der Ämter schwierig geworden ist, Gemeindeexekutiven verkleinert wurden, stieg der Zeitbedarf für einzelne Ämter, was es wiederum noch schwieriger macht, die wenigen Ämter zu besetzen. Und das Einsetzen von Schulleitern hat das Umfeld der Schulpflege derart verändert, dass die Schulpfleger oft nur noch ein folkloristisches Amt ohne eigentliche Funktion innehaben.

Die Politikwissenschafterin Sarah Bütikofer zeigte auf, dass auch das Bundesparlament längst kein Milizparlament mehr ist. Die meisten Parlamentarier seien heute selbständig erwerbend oder Berufspolitiker. «Angestellte sind im Parlament kaum noch zu finden.» Auffällig sei die neue Generation von Jungpolitikern, die häufig die Wahl ins nationale Parlament ohne vorangehende Ochsentour über kommunale und kantonale Ämter anstrebten. Bütikofer plädiert für eine Anpassung der Rahmenbedingungen, damit die Parlamentarier das Volk wieder besser repräsentieren können.

Milizarbeit ist nicht Gratisarbeit

Auf Gemeindeebene stelle sich weniger die Frage, ob, sondern eher wie das Milizsystem besser funktionieren könne. Auf absehbare Zeit gebe es nämlich schlichtweg keine Alternative. Politologieprofessor Andreas Ladner sieht zahlreiche Verbesserungsmöglichkeiten – etwa in der Rekrutierungspolitik. Vor allem die jüngeren und älteren Generationen seien in der Gemeindepolitik untervertreten, niedergelassene Ausländer in den meisten Kantonen und Gemeinden gar nicht erst zu den Ämtern zugelassen. Auch über materielle Anreize liessen sich Gemeindeämter attraktiver machen. Gemäss Ladner besteht nämlich der Kern der Milizarbeit nicht in der Gratisarbeit – Gemeindearbeit wird im Mittel mit einem Stundenlohn von 25 Fr. entschädigt –, sondern in der Tatsache, dass die Leute neben ihrem Amt auch noch einer anderen Tätigkeit nachgehen. Zum Teil helfe es nur schon, wenn man die Sache anders benenne – ein gemäss Ladner bewährtes Prinzip in der Schweiz. Vorbildlich sei diesbezüglich der Kanton Luzern, der dank der Schaffung von «Teilzeitämtern» relativ geringe Rekrutierungsprobleme bekunde.

Zukunftsfähiges Milizsystem

Für den Philosophen Georg Kohler ist das Milizsystem zentral für das Funktionieren des «Sonderfalls Schweiz» und der direkten Demokratie: «Wo lernt man sonst, was es heisst, konkrete, gute Politik zu machen?». Mit seiner Kombination aus Expertenwissen und Laienerfahrung sei das Milizsystem in einer Dienstleistungsgesellschaft durchaus zukunftsfähig, findet auch der Soziologe Hans Geser. Die Kritik an der fehlenden Motivation der Jungen sei kaum berechtigt, denn diese würden sich durchaus für das Gemeinwohl engagieren, nur eben ausserhalb der traditionellen Institutionen. Man müsse daher versuchen, dieses Potential vermehrt auch in den Gemeinden zu nutzen. Expo-02-Direktor Martin Heller hat mit dem traditionellen, langsamen Milizsystem eher schlechte Erfahrungen gemacht. Er plädiert daher für eine moderne Umsetzung der Milizidee jenseits der institutionalisierten Ämter in konkreten Projekten.

Die zum Teil sehr unterschiedlichen Auffassungen zeigen deutlich den Bedarf nach einer Grundsatzdiskussion. In diesem Sinn ist auch der Vorschlag von Avenir Suisse zu verstehen, einen obligatorischen Bürgerdienst für alle einzuführen, als Anregung für eine breite Debatte über die Rolle des Staatsbürgers in einem Bürgerstaat, denn der republikanische Staat braucht Bürger, die sich aktiv einbringen. Der Bürgerstaat sollte nicht zum Bürokratenstaat werden und der Staatsbürger nicht zum Staatskonsumenten. Genau darauf ist die Idee des Bürgerdienstes ausgerichtet.