Unsere Lebenserwartung steigt ständig. Für die private finanzielle Lebensplanung ist es deshalb ratsam, sich nicht auf Zahlen wie die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt zu verlassen. Grafik: NZZ

In Nachrichten und Analysen zur alternden Gesellschaft dominiert in der Regel eine Kennzahl: die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt. Sie ist in der Schweiz eine der höchsten der Welt und hat sich seit 1900 fast verdoppelt, von 46 auf 80 Jahre für Männer und von 49 auf gut 84 Jahre für Frauen. Diese Zahlen entsprechen der durchschnittlichen Zahl der zu erwartenden Lebensjahre eines Neugeborenen unter der Annahme, dass sich sämtliche äusseren Faktoren, die die Lebenserwartung beeinflussen, nach der Geburt nicht mehr verändern werden. Das ist natürlich ziemlich unrealistisch. Dementsprechend stieg die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in den Jahrzehnten seit 1950 ziemlich kontinuierlich, jährlich um etwa drei Monate.

Oft wenig aussagekräftig

Nun ist der «Durchschnitt» allerdings ein recht tückisches Konzept. In einer Publikation des Bundesamtes für Statistik heisst es zur durchschnittlichen Lebenserwartung bei der Geburt sogar, sie sei «kein aussagekräftiger Indikator in Bevölkerungen mit geringer Kinder- und Jugendsterblichkeit». Dennoch wird sie weiterhin häufig verwendet, da die Zahl leicht verfügbar und allgemein geläufig ist. Man weiss nicht nur, was «durchschnittlich» als Qualifikation bedeutet, etwa «ein durchschnittlicher Skifahrer», «ein durchschnittliches Essen», «eine durchschnittliche Theateraufführung» usw., man kennt auch die statistische Berechnung.

Addiert man beispielsweise die Körpergrösse aller Schüler an einer Schule und teilt das Ergebnis durch die Zahl der Schüler, erhält man die Durchschnittsgrösse der Schüler dieser Schule. Solche Durchschnitte sind praktisch identisch mit dem häufigsten Wert des entsprechenden Merkmals in der untersuchten Gruppe, sofern etwa gleich viele Menschen über und unter diesem häufigsten Wert liegen und es keine gewaltigen Ausschläge auf der einen oder anderen Seite gibt. Die Statistiker sprechen in einem solchen Fall von einer Normalverteilung.

Schiefe Verteilungen

Anders ist es aber bei einer schiefen Verteilung, wie sie etwa das Einkommen oder – wie man auf unserer Grafik des Monats erkennen kann – die Sterblichkeit auszeichnet. Hier fallen Durchschnittswert und häufigster Wert auseinander. Die meisten Frauen sterben nicht im Durchschnittsalter von 84, wie es bei einer Normalverteilung der Fall wäre, sondern im Alter von 90, und die meisten Männer nicht mit 80, sondern mit 88, also sogar 8 Jahre über der durchschnittlichen Lebenserwartung. Die kleinere Lücke zwischen Männern und Frauen beim häufigsten Todesalter als bei der durchschnittlichen Lebenserwartung – nur zwei statt gut vier Jahre – erklärt sich mit der höheren Sterblichkeit der Männer in jüngeren Jahren, vor allem wegen Unfällen, anderer Gewalteinwirkung und Suizid.

Die Grafik basiert auf der sogenannten Sterbetafel, also den effektiven Todesfällen des Jahres 2013, umgelegt auf ein fiktives Kollektiv von je 100 000 Frauen und Männern im jeweiligen Alter. Beide Verteilungen verlaufen, abgesehen von den Säuglingstoden im Alter zwischen 0 und 1 lange vergleichsweise flach, steigen dann zuerst sanft und schliesslich immer steiler bis zur höchsten Säule, also dem Alter, in dem die meisten Menschen sterben. Diese höheren Zahlen wären die richtige Antwort auf die Frage, welches Alter das Neugeborene am wahrscheinlichsten erreicht bzw. auf welches Sterbealter man wetten müsste.

Wette auf das Sterbealter

Und diese «Wette» ist sozialpolitisch nicht unerheblich. Arbeitnehmer gehen nämlich genau eine solche «Wette» ein, wenn sie sich überlegen, ob sie sich ihr Pensionskassenkapital zu Beginn des Ruhestandes auszahlen lassen oder lieber eine regelmässige Rente beziehen möchten. Viele Menschen, wohl zu viele, treffen diese Wahl aufgrund der durchschnittlichen Lebenserwartung – und sie unterschätzen damit ihr wahrscheinlichstes Sterbealter. Auch die durchschnittliche Lebenserwartung beim Eintritt in die Pension, also im Alter 65, ist, wie die Grafik zeigt, als Orientierungsgrösse irreführend. Zwar können die Frauen in diesem Alter damit rechnen, dass sie im Durchschnitt 87 werden (und die Männer 84), aber ihr wahrscheinlichstes Sterbealter liegt eben um einige Jahre höher.

Vorsicht ist ratsam

Insofern lautet die Botschaft für die private finanzielle Lebensplanung und den Entscheid über die Auszahlung der Pensionskassengelder, sich nicht auf den «Durchschnitt» zu verlassen (und auch nicht auf die Ergänzungsleistungen als «Rückversicherung», wie dies gemäss Monika Bütler von der Universität St. Gallen zunehmend passiert), sondern in seinem Spar- und Konsumverhalten mit einem höheren Sterbealter zu rechnen: zum einen, weil die durchschnittliche Lebenserwartung aufgrund vieler Faktoren weiter zunehmen dürfte, und zum anderen, weil das wahrscheinlichste Sterbealter deutlich höher liegt als die durchschnittliche Lebenserwartung.

Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 31.1.2015.
Mit freundlicher Genehmigung der «Neuen Zürcher Zeitung».