In der Theorie sind die politischen Parteien Träger des Schweizer Milizsystems. Ihre Lokalsektionen übernehmen traditionell wichtige Aufgaben: Sie sollen für die Rekrutierung von Kandidaten für lokale Ämter sorgen und damit eine Voraussetzung für eine funktionierende, deliberative Demokratie schaffen. Auch die Parteien selbst gelten als föderalistisch aufgebaute Vorzeige-Milizorganisationen: Sie leben in Wort und Tat den Milizgedanken und sorgen so für den Sauerstoff des Milizsystems, diesem Pfeiler des schweizerischen Staatsaufbaus und -verständnisses.

Die Realität aber zeigt ein differenzierteres Bild. Die Schweizer Parteien verlieren laufend Mitglieder, und die Lokalparteien werden gerade in kleineren Gemeinden zunehmend zu Briefkastenfirmen, die ihre Rekrutierungsfunktion nicht mehr erfüllen können. Kein Wunder also, dass immer mehr Parteilose, die mit Ach und Krach gefunden werden, die Gemeindeexekutiven bevölkern. Generell ist in der Schweiz ein Wandel von mitglieder- zu wählerorientierten Parteien zu beobachten, ein Strukturwandel, der in anderen europäischen Ländern längst vollzogen ist. Am weitesten fortgeschritten ist diese Entwicklung bei der SVP, die auf nationaler Ebene eine hochprofessionelle, strategische Themenbearbeitung betreibt und diese via Volksabstimmungen und permanentem Wahlkampf umsetzt.

Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf Demokratie und Milizsystem als Ganzes. Auf lokaler Ebene führt sie, erstens, den demokratischen Widerstreit ad absurdum. Wo es keine Parteien mehr gibt und zufällig ausgewählte, auch «apolitische» Personen die Ämter besetzen, steht der Wettstreit zwischen verschiedenen Weltanschauungen zur Disposition. Wenn zudem systematisch gerade so viele Kandidaten wie Sitze zur Wahl stehen, werden die Kandidaten nicht mehr (aus-)gewählt, sondern bloss noch abgesegnet, meist bei geringer Wahlbeteiligung.

In dieser sich entwickelnden «Zuschauerdemokratie» drohen Gemeinsinn, Kompromissfähigkeit und Wissen verloren zu gehen. Zudem werden durch eine Schwächung der lokalen Parteien Föderalismus und Subsidiarität in Frage gestellt.

Das Interesse verschiebt sich dabei zur nationalen Politik, wo die Parteien nach wie vor eine aktive Rolle spielen. Durch die zunehmende Medialisierung dieser Rolle wird starke Medienpräsenz auf höchster Ebene immer wichtiger. Die Folge: lokales Engagement mit geringer Strahlkraft gerät noch mehr ins Hintertreffen; lokale Exekutiverfahrung verliert für eine nationale Politkarriere an Bedeutung. Wenn nun zusätzlich Amtsinhaber generell zum Feindbild erkoren werden, von gewissen Parteien abschätzig als «classe politique» abgetan werden, so verringert dies die Motivation der Bürger weiter, für ein Amt zu kandidieren. Dabei sorgen gerade sie bisher dafür, dass zumindest auf lokaler Ebene keine Elite aus Profi-und-Titelseiten-Politikern entsteht.

Die Miliztätigen auf lokaler Ebene waren und sind ein Bindeglied zur professionalisierten Politik. Sie verkörpern Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl, ohne sie stünde der Bürger als reklamierender Zuschauer dem Berufspolitiker gegenüber, wie es in repräsentativen Systemen gang und gäbe ist. Oder noch prägnanter: Eine direkte Demokratie ohne Milizgedanke verkäme zu einer Stimmungsdemokratie.

Das Verhalten der Parteien spielt, um dem Trend entgegenzuwirken, eine entscheidende Rolle: Entweder verstehen sie sich als Stütze des Milizsystems und versuchen ihre «dienende» Rolle, die ihnen hier zugedacht ist, in Zukunft besser wahrzunehmen. Oder sie schielen auf den unzufriedenen Wutbürger, verunglimpfen diejenigen, die sich (noch) engagieren, um  Wähler zu gewinnen. Letzteres würde den Milizgedanken weiter schwächen, denn die Bürger hätten immer weniger Lust, sich als Milizpolitiker andauernder Polemik auszusetzen.

Noch sind wir nicht so weit. Viele Bürgerinnen und Bürger sind bereit, sich aktiv zu beteiligen. Doch die aufziehenden Wolken sind unübersehbar. Eine neue Debatte über die grundsätzliche Bedeutung des Milizsystems ist notwendig.

Der Beitrag erschien im «Schweizer Monat», Ausgabe März 2015.
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