Mit der Einführung einer strategischen Reserve will Deutschland eine Art Schutzmechanismus gegen Blackouts schaffen. Die Kraftwerksreserve würde in Extremsituationen mit hoher Nachfrage und wetterbedingt tiefem Angebot zur Stabilität des Systems beitragen. Zu diesem Zweck plant die Bundesregierung gemäss Medienberichten acht grössere konventionelle Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 4000 MW unter Vertrag zu nehmen – das entspricht rund 5% des Jahreshöchstverbrauchs im Jahr 2013 (maximale Last). Zum Vergleich: das grösste Schweizer Kernkraftwerk Leibstadt verfügt über eine Leistung von 1220 MW. Die strategische Reserve stellt einen Kapazitätsmechanismus dar, der nach  einem einfachen Prinzip funktioniert: Eine zentrale Instanz – üblicherweise der Übertragungsnetzbetreiber – beschafft im Rahmen eines Auktionsverfahrens bei den Stromproduzenten zusätzliche Kraftwerkskapazitäten, die erst in kritischen Versorgungssituationen in Betrieb genommen werden.

Wann ist die Versorgung kritisch?

Die besondere Herausforderung liegt in der Feststellung der kritischen Situation. Eine solche lässt sich im Voraus nicht physikalisch messen. Vielmehr braucht es ein Signal aus dem Markt. Sinnvollerweise ist dies der Preis im Spotmarkt, der ein Zeichen für das Zusammentreffen einer hohen Nachfrage mit einem geringen Angebot ist. Erreicht er eine kritische Höhe (Auslösungspreis), aktiviert der Netzbetreiber die Kraftwerksreserven und offeriert deren Energie im Spotmarkt. Der Angebotspreis entspricht genau dem Auslösungspreis, wodurch die Angebotskurve ab diesem Preisniveau einen horizontalen Verlauf annimmt. Der Auslösungspreis wird dadurch zu einer Preisobergrenze im Spotmarkt. Wie in Schweden und Finnland kann die strategische Reserve alternativ aktiviert werden, wenn sich im Spotmarkt kein Ausgleich von Angebot und Nachfrage einstellt. Der Preis für die offerierte Reserve entspricht dort dem letzten kommerziellen Angebot an der Börse Nordpool plus einem Zuschlag von 0,01 €/MWh. Der Ansatz ist im Grunde äquivalent mit dem im Voraus definierten Auslösungspreis – schliesslich antizipieren die Nachfrager, dass ab einem bestimmten Preisniveau die Reserve einspringen wird.

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Der implizite oder explizite Auslösungspreis teilt den Markt in zwei Segmente: Solange sich Angebot und Nachfrage unterhalb des Auslösungspreises treffen, handelt es sich um einen freien Markt. Sobald die Kraftwerksreserve ausgelöst wird, handelt es sich im Grunde um einen regulierten Markt, auf dem einzig der Auslösungspreis gilt. Je tiefer dieser ist, desto bedeutender ist das Segment des regulierten Marktes und desto grösser ist die benötigte strategische Reserve, die der Netzbetreiber beschaffen muss. Der Auslösungspreis ist dabei nicht nur für den deutschen Strommarkt eine entscheidende Grösse, sondern auch für Nachbarländer wie die Schweiz. Aufgrund seiner Kleinheit und des regen Handels übernimmt der Schweizer Markt häufig die deutschen Strompreise. Durch die enge Vernetzung würde sich die deutsche Preisobergrenze mindestens teilweise auch auf die Schweiz übertragen (vgl. Diskussionspapier «Keine Energiewende im Alleingang»). Davon könnten Schweizer Konsumenten profitieren, denn sie würden gegen hohe Strompreise abgesichert. Den Preis für diese Versicherung bezahlen die deutschen Verbraucher, da sie die Reserve etwa im Rahmen ihres Netzentgelts finanzieren. Wenig Freude hätten umgekehrt die Schweizer Produzenten, da sie kaum von (importierten) hohen Knappheitspreisen profitieren könnten. Besonders kritisch wäre das für Pumpspeicherwerke, deren Businessmodell auf der Preisvolatilität basiert. In welchem Ausmass Schweizer Konsumenten profitieren oder umgekehrt Produzenten benachteiligt würden, hängt einerseits von der Höhe des Auslösungspreises ab, anderseits von der relativen Preisentwicklung im italienischen Markt, da die italienischen Preise vor allem im Winter eine Art Preisobergrenze für die Schweiz darstellen. Der Einfachheit halber wird im Folgenden der Einfluss des internationalen Preisegefüges ausgeklammert (ohnehin plant auch Italien einen Kapazitätsmechanismus).

Auslösungspreis bei Börsenpreisgrenzen?

Wo also würde Deutschland den Auslösungspreis festlegen? Eine Möglichkeit wäre, dass er sich an den Preisgrenzen der Strombörse orientiert. Weil die Marktteilnehmer an der Börse keine höheren Gebote machen können, können sich über diesen Preisgrenzen Angebot und Nachfrage ohnehin nicht mehr ausgleichen. Im day-ahead Handel (Vortag) an der EPEX gilt heute eine obere Preislimite von 3000 €/MWh, im intraday Handel (am Tag der Lieferung) 9999,99 €/MWh. Für den Auslösungspreis käme eher die Preislimite am Vortag in Frage, da der Abruf der Kraftwerksreserve eine gewisse Vorlaufzeit benötigt. Diese Preisgrenzen wurden bislang jedoch bei weitem nie erreicht. Die maximalen Preise im deutschen Marktgebiet lagen zwischen Anfang 2014 und 24. März 2015 bei rund 98 €/MWh im day-ahead- (24.03.2015) und 139 €/MWh im intraday Handel (21.07.2014). Zum Vergleich: In der Schweiz lag der höchste Preis bei 182 €/MWh (intraday 09.02.2015). Die höchsten deutschen Preise überhaupt wurden am 15. November 2007 (18 bis 19 Uhr) erreicht –  day-ahead 822 und intraday 601 €/MWh. Sollte der Auslösungspreis tatsächlich auf dem Niveau der technischen Preislimite der Börse angesetzt werden, käme die strategische Reserve vermutlich kaum oder gar nie zum Einsatz.

Auch in den nächsten Jahren dürften Knappheitssituationen mit derart hohen Preisen unwahrscheinlich sein. Die deutschen Verbraucher, die den Mechanismus finanzieren, würden von einer Preisabsicherung auf derart hohem Niveau kaum profitieren. In diesem Kontext muss die strategische Reserve in Deutschland eher als eine Art politische Massnahme betrachtet werden, die den Stromproduzenten zusätzliche Einnahmen im Sinne einer Subvention ausrichtet, ohne dass damit ein relevanter realer Effekt hinsichtlich Versorgungssicherheit und Preisniveau resultiert. Konsequenterweise hat dann die deutsche Kraftwerksreserve auch keine Folgen für den Schweizer Strommarkt.

Hoher Auslösungspreis und ineffizienter Kraftwerkseinsatz

Natürlich kann man umgekehrt argumentieren, dass es sinnvoll ist, wenn die strategische Reserve den freien Markt möglichst ungestört funktionieren lässt – also am besten gar nicht zum Einsatz kommt. Doch umgekehrt hat ein sehr hoher Auslösungspreis den Nachteil eines suboptimalen Kraftwerkseinsatzes: Stellt sich bei sehr hoher Nachfrage ein Spotmarktpreis zwischen den Grenzkosten des letzten produzierenden Kraftwerks und dem Auslösungspreis ein, werden von Verbrauchern Massnahmen zur Lastreduktion getroffen, deren Grenzkosten über denen der (noch nicht eingesetzten) Kraftwerksreserven liegen. Ein Zahlenbeispiel illustriert das Problem (vgl. Abbildung): In einer Situation mit knappen Produktionskapazitäten würde der Preis auf 2000 €/MWh ansteigen. Dies veranlasst vor allem industrielle Konsumenten, ihren Verbrauch zu reduzieren. Lastmanagement und Produktionsunterbrüche sind jedoch nicht kostenlos. Die marginale Zahlungsbereitschaft für verbrauchssenkenden Massnahmen entspricht im Marktgleichgewicht genau dem Preis im Spotmarkt, also 2000 €/MWh. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist wäre es daher effizient, die Kraftwerksreserve, deren Grenzkosten beispielsweise bei lediglich 70 €/MWh liegen, einzusetzen. Doch bei einem angenommenen Auslösungspreis von 3000 €/MWh blieben die Kraftwerke ungenutzt. Sollten sich in den nächsten Jahren vermehrt Situationen mit derart hohen temporären Preisspitzen und ungenutzter Reserve einstellen, dann nähme wohl der (politische) Druck zu, den Auslösungspreis auf ein (deutlich) tieferes Niveau zu senken. Und erst dann hätte die strategische Reserve in Deutschland auch relevante Auswirkungen auf die Schweiz.