Wohnkosten

Zu den hartnäckigen Mythen der Schweizer Wohnpolitik – sogar der Schweizer Politik schlechthin – gehört die Belastung des Mittelstandes durch die hohen Mieten. Diese habe in den letzten Jahren besonders zugenommen und alle Einkommenszunahmen zunichtegemacht. Die Wahrheit ist aber eine andere, wie eine neue detaillierte Analyse des Bundes und des Bundesamtes für Statistik zur wirtschaftlichen Lage der Mittelschicht zeigt.

Die Studie untersucht die Belastung der Haushaltseinkommen für Mieter- und Eigentümerhaushalte in den Schweizer Regionen zwischen 1998 und 2011 – neuere offizielle Daten liegen leider nicht vor. Die Periode ist dennoch gut gewählt. Sie umspannt die ganze Phase steigender Immobilienpreise und erhöhter Bautätigkeit, die als Immobilienboom bezeichnet wurde. Die Resultate sind eindeutig. Gemessen am Einkommen sind die Wohnkosten der Mittelschichtshaushalte in den letzten Jahren stabil geblieben. Eigenheimbesitzer, die heute knapp die Hälfte aller mittelständischen Haushalte ausmachen, konnten von den fallenden Hypothekarzinsen profitieren. Diese Haushalte verzeichneten sogar einen Rückgang der Belastung. Während im Jahr 1998 die Wohnkosten bei den mittleren Einkommensgruppen mit Wohneigentum 15,2% des Bruttoeinkommens ausmachten, waren es 2011 nur noch 13,2%.

Aber auch bei den Mieterhaushalten hat der Immobilienboom bisher wenig Spuren im Budget hinterlassen. Die durchschnittliche Belastung des Brutto-Haushaltseinkommens für Mieter ist zwar mit 18,9% eindeutig höher als bei den Eigentümern, doch in den letzten 15 Jahren ist sie praktisch konstant geblieben (+0,4%-Punkte). Bei einer gemeinsamen Betrachtung der Mieter- und Eigentümerhaushalte sind in keiner der Grossregionen die Wohnkosten für die Mittelschicht angestiegen; in der Ost- und Zentralschweiz sanken die Wohnkosten im Verhältnis zum Brutto-Haushaltseinkommen sogar deutlich. Nicht einmal im Kanton Zürich und in der Genferseeregion, wo die gefühlte Mietpreisinflation als sehr hoch bezeichnet werden kann, lässt sich eine relative Verteuerung der Mieten nachweisen. Gemessen am Einkommen gaben Zürcher Haushalte 2011 so viel aus fürs Wohnen wie gegen Ende der neunziger Jahre. Wie lässt sich dann die grosse Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wahrheit erklären? Neuzuzüger beispielsweise müssen tendenziell mit höheren Wohnausgaben als Altmieter rechnen. Hat sich diese Schere geöffnet? Auch dies wird im Bericht verneint. Wie weitere Schätzungen für die Periode 2004 bis 2014 zeigen, hat fast in der gesamten Deutschschweiz die Mietbelastung des repräsentativen Neumieters (der sich dadurch auszeichnet, dass er in beiden Jahren ein Medianeinkommen erzielt hat) sogar leicht abgenommen. Nur in der Stadt Zürich stellt man eine geringe Zunahme fest. Aus dem Rahmen fällt die Region Genf, wo eine eindeutige Verteuerung der Belastung von Neumieten festgestellt wird. Zumindest in der Deutschschweiz sind aber die Haushaltseinkommen stärker gewachsen als die Neumieten.

Anders sieht es bei den Haushalten mit tieferen Einkommen aus, die meist zur Miete wohnen. Hier ist die Belastung nicht nur traditionell höher (Wohnkosten von 30% des Bruttoeinkommens), sie ist seit 1998 gar um weitere 1,7%-Punkte gestiegen.Dies stellt die stärkste Zunahme aller Haushaltsgruppen dar. Umso wichtiger ist es also, dass die Wohnpolitik künftig gezielter erfolgt. Eine umfassendere Wohnpolitik für den breiten Mittelstand braucht es hingegen nicht.

Dieser Artikel erschien in der Beilage  «NZZ Domizil» der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 5.6.2015
unter dem Titel «Mythos der steigenden Mietbelastung des Mittelstands».
Mit freundlicher Genehmingung der «Neuen Zürcher Zeitung».