Der freie Bauer – mehr Mythos als Realität

Kleinbetriebe produzieren nicht per se ökologischer als grosse. (Bild: Fotolia)

Roger Köppel sang unlängst in der Weltwoche ein Loblied auf die Schweizer Bauern, erst kürzlich noch sekundiert von Matthias Binswanger. Anlass dazu bildete die Debatte um die Abschaffung des «Cassis-de-Dijon»-Prinzips für Lebensmittel. Dieses droht unter dem Druck der Agrarlobby wieder aufgegeben zu werden. Es ist vor diesem Hintergrund wichtig, einige Fakten in Erinnerung zu rufen, die die Apologeten der gegenwärtigen Agrarpolitik gerne verdrängen bzw. schlicht nicht zur Kenntnis nehmen..

Erstens haben selbst die schärfsten Kritiker der Agrarpolitik noch nie den Big Bang à la Neuseeland gefordert. Zwischen dem Extremprotektionismus der Schweiz und der «totalen Marktöffnung» gibt es zahlreiche Schattierungen für mehr Markt und weniger Protektionismus. Bei uns wird dagegen das Rad unter dem Druck der Agrarlobby wieder zurückgedreht.

Zweitens sind Bauern mit einem Pensum von mindestens 80 Wochenstunden in unserer hoch mechanisierten Agrarwirtschaft heute wohl eher die Ausnahme. Natürlich gibt es auf einem Bauernhof immer etwas zu tun. Allerdings ist die Arbeit etwa mit eintöniger Büroarbeit am Bildschirm nicht zu vergleichen. Ausserdem arbeiten immer mehr Bauern in Teilzeitpensen. Wenn man ihr Einkommen auf eine Vollzeitstelle umrechnet, erhalten sie mehr als ein normaler Arbeiter in Industrie und Gewerbe, wie aus Insiderkreisen zu erfahren ist. Das Schweizer Agrarregime mit seinen hohen unspezifischen Direktzahlungen gilt unter kritischen Bauern auch schon mal als das grösste Pro-Kopf-Sozialprogramm der Schweiz. Dieses Regime hat zur Folge, dass zu viele unwirtschaftliche Betriebe künstlich über Wasser gehalten werden, statt für wachstumswillige Bauernunternehmer auf den Markt zu kommen. So konkurrenzieren die meist zu kleinen Betriebe weiterhin die anderen und tragen latent zu Überproduktion und Preisdruck bei.

Drittens ist das viel beklagte «Bauernsterben» ein normaler Prozess des wirtschaftlich-technologischen Fortschritts, der überall auf der Welt abläuft, in der Schweiz allerdings durch die Einführung der allgemeinen Direktzahlungen Ende der 1990er-Jahre deutlich abgebremst. In den meisten Jahren nach 2000 lag die Zahl der Betriebsaufgaben unter der Richtgrösse von jährlich 2%, die das Bundesamt für Landwirtschaft vertritt. Diese gilt als sozialverträglich, da die Aufgabe meist im Generationenwechsel stattfindet und geplant werden kann. Die Betriebe verschwinden dann nicht einfach, sondern die Flächen werden übernommen und weiter bewirtschaftet. So kann auf weniger Agrarland mit weniger Betrieben der Selbstversorgungsgrad für eine wachsende Bevölkerung praktisch gehalten werden.

Viertens ist die Behauptung, ein stärkeres «Bauernsterben» würde die gemeinwirtschaftlichen Leistungen gemäss Verfassung gefährden, reine Bauernpropaganda. Zudem produzieren Kleinbetriebe nicht per se ökologischer als grosse. Die industriell produzierende Landwirtschaft der Schweiz ist zunächst einmal eine massive Umweltbelastung; und industriell arbeiten auch viele Kleinbetriebe. Wenn die Agarpropaganda im Zusammenhang mit den bäuerlichen Aktivitäten die Sorge um die Biodiversität in den Vordergrund rückt, ist daran zu erinnern, dass die Intensivlandwirtschaft mit zu hohen Tierbeständen und der massiven Güllerei zu den grössten Feinden der Artenvielfalt gehört.

Fünftens sind aus den freien Schweizer Bauern früherer Zeiten ganz besondere «urschweizerische Unternehmer» geworden, die viel Energie auf die Sicherung von Schutz und Stützung durch den Staat verwenden. Letztes Jahr feierte der Schweizer Bauernverband das «Jahr der Familienlandwirtschaft», via SBV-Website verbrüdert mit marxistisch-gewerkschaftlich organisierten Vereinigungen landloser Drittwelt-Kleinbauern wie Via Campesina, die an Demos mit Hammer und Sichel-Emblemen auftreten. Das gemeinsame Motto: Vereint gegen WTO und Freihandel. So tickt der heutige freie Schweizer Bauer!

Hans Rentsch ist Ökonom und ehemaliger Projektleiter «Agrarpolitik» bei Avenir Suisse und Autor bzw. Co-Autor der Publikationen «Der befreite Bauer» und «Agrarpolitische Mythen».