Die wirtschaftliche Basis des Schweizer Berggebiets wird zusehends in Frage gestellt, denn derzeit geraten dort klassische Quellen der Wertschöpfung in Bedrängnis: Der Tourismus durch den harten Franken, die Wasserkraft in Folge der Energiewende und die Baubranche aufgrund der Zweitwohnungsinitiative. Zur Sicherung des langfristigen Wohlstands bedarf es daher einer wirtschaftlichen Diversifizierung. In diesem Zusammenhang spielt die Industrie eine wichtige Rolle, denn das Berggebiet ist stärker industrialisiert als gemeinhin angenommen.

Stattlicher Anteil von 40 Prozent

Der Uhrencluster im Jura ist zentraler Export- und Innovationsmotor des ansonsten eher strukturschwachen Kantons. Mit der Lonza im Wallis und der Ems-Chemie in Graubünden finden sich zwei grosse Schweizer Chemiefirmen im Alpenraum. Nidwalden hat mit den Pilatus-Flugzeugwerken und Obwalden mit Maxon Motor ebenfalls industrielle «Hidden Champions». Die Meyer Burger AG im Berner Oberland, ein global agierendes Technologieunternehmen, beschäftigt alleine in Thun 500 Mitarbeiter. Im Tessin sind drei der weltweit grössten Goldraffinerien beheimatet. In Uri ist der Mischkonzern Dätwyler mit weltweit über 1 Mrd. Fr. Umsatz grösster Arbeitgeber des Kantons.

Hinzu kommt eine Vielzahl industrieller und gewerblicher KMU, die im Berggebiet für Arbeitsplätze, Investitionen und Steuersubstrat sorgen. Dies zeigt auch eine Studie der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) mit dem Titel «Zukunft der Industrie im Schweizer Berggebiet». Ihrzufolge lag der Anteil des 2. Sektors (= das produzierende Gewerbe) in den Bergregionen (42%) deutlich höher, als im Rest der Schweiz (30%). Der 2. Sektor  umfasst neben der Industrie im engeren Sinne (dem verarbeitenden Gewerbe) auch das Handwerk und die Baubranche.

Hohe Löhne und ein starker Franken zwingen die Schweizer Industrie, sich mehr denn je auf innovative, wertschöpfungsintensive Produkte zu spezialisieren. Dies führt unter anderem zu einer Verschiebung im Branchenmix, der auch im Berggebiet seine Spuren hinterlässt. So fiel etwa die ehemals starke Textilindustrie in Glarus und im Toggenburg (SG) bereits vor Jahrzehnten dem internationalen Wettbewerb zum Opfer. Diese Regionen leiden noch heute unter dem Verlust ihrer Industrie.

Das Potenzial der Zweitwohnungsbesitzer ausschöpfen

Wenn derartige Verwerfungen künftig vermieden werden sollen, muss das Berggebiet gute Rahmenbedingungen nicht nur für den Tourismus bieten, sondern auch für die Industrie. Dazu zählen ein attraktives Steuerklima, eine gezielte Pflege der Bestandsunternehmen und leistungsfähige Bildungssysteme, die die nötigen Fachkräfte hervorbringen. Das Berggebiet sollte zudem an seinen Standortnachteilen arbeiten, wie einer schlechten Verkehrsanbindung, einer geringeren Dichte an Forschungsinstitutionen oder der mangelnden Attraktivität für international mobile Fachkräfte. Für eine wettbewerbsfähige Industrie ist aber auch die Gründung neuer Unternehmen und deren Wachstum entscheidend.

Einen innovativen Ansatz für die Unterstützung von Startups entwickelte man im österreichischen Bundesland Tirol. Die Standortagentur Tirol organisierte im Sommer 2015 einen «Business Angel Summit» in Kitzbühel, an dem ausgewählte Startups potentiellen Investoren ihre Geschäftsideen präsentierten. In der Folge kam es zu mehreren Vertragsabschlüssen. Dabei nutzte man gezielt die Tatsache, dass im Edelskiort Kitzbühel viele Unternehmer und Manager ihre Feriendomizile haben, um Kapital und Know-how für die Erneuerung der industriellen Basis zu mobilisieren. Auch unter den Zweitwohnungsbesitzern in St. Moritz, Gstaad oder Crans Montana dürfte es zahlreiche potenzielle Investoren und kompetente Sparring-Partner für Jungunternehmer geben.

Daniel Müller-Jentsch nahm am 29.09.2015 in Innsbruck als Referent an einer Tagung zum Strukturwandel im Berggebiet teil. Diese stand unter dem Titel «Die Zukunft der Täler im Alpenraum».