John Maynard Keynes war 1930 zu optimistisch, als er sich in seiner Utopie «Economic possibilities for our grandchildren» vorstellte, 2030 könnten 15 Stunden Arbeit pro Woche genügen, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. In der Tendenz aber war seine Tagträumerei richtig. Es gibt einen Trend zu immer weniger Arbeitsstunden, die gegen Bezahlung geleistet werden, als Folge gesetzlicher Vorschriften über Arbeitszeit und Ferien ebenso wie als Ergebnis individueller Arbeitszeitverkürzung, etwa in Form von Teilzeitarbeit oder unbezahltem Urlaub. Und trotz dieser Abnahme des Arbeitseinsatzes pro Beschäftigten geht der Wohlstand nicht zurück oder bleibt gleich, sondern er steigt deutlich.

Fleissige Neue Welt

Man muss hier explizit von Trends sprechen und darf sich nicht an genauen Zahlen für bestimmte Jahre festkrallen, weil es je nach Definition, Methodik und Umrechnung von Wechselkursen höchst unterschiedliche Daten gibt. Die Grundaussage bleibt aber gleich: Die Menschen in den westlichen Industriestaaten wurden (sieht man von den Einbrüchen der beiden Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise ab) immer reicher und mussten dafür immer weniger arbeiten. Michael Huberman und Chris Minns (Montreal/London) haben diesen Trend bis ins Jahr 1870 zurückverfolgt. Damals wurde in Europa und in der Neuen Welt (USA, Kanada, Australien) fast gleich viel gearbeitet.

Es waren im gewichteten Durchschnitt gegen 3100 Stunden pro Jahr, in der Schweiz sogar 3200 Stunden. Das ergab Wochenarbeitszeiten von 60 bis 70 Stunden, bei gleichzeitig vielleicht 5 bis 15 Ferientagen pro Jahr. Die Zahlen haben sich seither in Europa halbiert, in der Neuen Welt sind sie dagegen lediglich um knapp 40% zurückgegangen. Heute wird somit in der Neuen Welt deutlich mehr gearbeitet als auf dem alten Kontinent, wegen kürzerer Ferien und längerer Wochenarbeitszeiten.

Deutschland fällt aus der Reihe

Der Rückgang war nicht nur ein Phänomen der Gründerzeit. In der Schweiz sank die Arbeitszeit pro Arbeitnehmer zwischen 1950 und 2015 um weitere 21%, von knapp 2000 Stunden auf etwas unter 1600 Stunden. Andere Berechnungen (Michael Siegenthaler, KOF/ETH) zeigen zwar höhere Jahresarbeitszeiten, kommen aber zu ähnlichen prozentualen Rückgängen.

In den USA sodann betrug der Rückgang nur 11%, von ebenfalls rund 2000 Stunden auf unter 1800 Stunden. Die Zahlen für Deutschland fallen etwas aus der Reihe, mit einem Rückgang in den letzten 65 Jahren um über 40% von gut 2400 Stunden auf unter 1400 Stunden. Vermutlich spielen hier die Anstrengungen des Wiederaufbaus nach dem Krieg eine Rolle, die die Arbeitszeit auffällig in die Höhe drückten. In Hongkong oder Bangladesh ist übrigens die Arbeitszeit pro Arbeitnehmer noch heute massiv höher als in den USA oder in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg.

Steigende Erwerbsquote

Trotz weniger Arbeitseinsatz ist der Wohlstand gestiegen. Würde man den Wohlstand allerdings am Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf messen, blendete man die Erwerbsquote völlig aus. Die gegenläufige Entwicklung von BIP pro Kopf und Arbeitsstunden pro Beschäftigten könnte dann schlicht darauf zurückzuführen sein, dass ein höherer Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter arbeitet als früher. Deshalb zeigt die Grafik das BIP nicht pro Einwohner, sondern pro Beschäftigten (in Dollarwerten von 2014, umgerechnet mittels Kaufkraftparitäten).

Führt man beide Trends zusammen, heisst das, dass die Menschen weniger arbeiten und zugleich produktiver geworden sind. Für die Schweiz zeigen die Untersuchungen eine Verdreifachung des BIP pro Arbeitsstunde, von 20 $ 1950 auf 61 $ heute. In Deutschland liegt dieses BIP pro Stunde bei 64 $, in den USA bei 67 $. Das belegt einmal mehr, dass die Schweiz ihren hohen Wohlstand nicht nur, aber doch mehr als andere Länder auch einem hohen Arbeitseinsatz verdankt.

Gefährliche Illusionen

Insgesamt ist der Trend zu weniger Arbeit und mehr Wohlstand eine grossartige Erfolgsgeschichte. Es wäre jedoch verheerend, daraus den Schluss zu ziehen, man könne und solle nun künftige Produktivitätsfortschritte nur noch in Form von Arbeitszeitreduktionen konsumieren. Der optimale Mix von Konsum (von Gütern und Diensten) und Freizeit ist für jedes Individuum anders und darf in einer liberalen Gesellschaft nicht von oben diktiert werden, sondern muss − unter der Restriktion der Knappheit und abhängig von der jeweiligen Situation – die individuelle Entscheidung jedes Einzelnen bleiben.

Die Vorstellung, die Bedürfnisse der Menschen in den reichen Staaten hätten einen Sättigungspunkt erreicht und man könne in einer Gesellschaft, die alles Wachstum in Freizeit ummünzt, gleichwohl genügend Innovation generieren, ist eine gefährliche Illusion. Hingegen kann Arbeitszeitverkürzung sehr wohl auf der individuellen Ebene stattfinden – und sie tut es auch. Beispielsweise hat sich der Anteil der Männer, die Teilzeit (50% bis 90%) arbeiten, in den letzten 25 Jahren immerhin verdreifacht, auf 10%. Einiges spricht dafür, dass sich der säkulare Trend zu weniger Arbeitsstunden pro Beschäftigten fortsetzen wird, aber das sollte entsprechend den Bedürfnissen der Menschen geschehen und nicht nach generellen Vorgaben.

Dieser Artikel erschien in der «Neue Zürcher Zeitung» vom 31.10.15.
Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.