Die Europäische Union ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz. 2014 gingen 55% aller Exporte in die EU, über 73% aller Einfuhren stammten aus der EU. Ähnlich ist das Bild bei der Zuwanderung: 2013 stammten 62% der Einwanderer aus der EU, 50% aller Auswanderer aus der Schweiz gingen dorthin: Kaum ein EU-Mitgliedsstaat ist so europäisch wie die Schweiz. Während der vergangenen 13 Jahre haben die bilateralen Verträge zu einer bisher beispiellosen wirtschaftlichen Verflechtung mit der EU geführt. Seit einiger Zeit ist der bilaterale Weg aber in der Schwebe und verliert in der Schweiz an Rückhalt. Zum einen herrscht Unsicherheit wegen der Umsetzung der Initiative «Gegen Masseneinwanderung», zum andern drängt die EU auf ein institutionelles Rahmenabkommen, das einen homogenen Rechtsbestand für den Binnenmarkt und eine einheitliche Rechtsauslegung und Streitbeilegung gewährleisten soll. In einem umfangreichen Buch analysiert Avenir Suisse Nutzen und Kosten der bilateralen Verträge jenseits der politischen Zuspitzung und untersucht die Entwicklungsoptionen detailliert nach Themen und Branchen.

Positive wirtschaftliche Bilanz

Aus ökonomischer Sicht ist die Bilanz der Bilateralen eindeutig positiv:

  • Von den niedrigeren Exporthürden (Abkommen über die technischen Handelshemmnisse) profitierten die KMU – unter ihnen viele innovative Kleinbetriebe – am meisten. Der breitere Mix an Exportgütern hat den Aussenhandel stabilisiert. Das Abkommen führte aber – entgegen den Erwartungen – nicht zu einem höheren Exportvolumen.
  • Zu den Gewinnern des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse gehören auch die Schweizer Konsumenten. Die niedrigeren Handelshürden, besonders die Harmonisierung von Produktnormen, erleichterten den Import und belebten den Wettbewerb im Inland. Die Position der EU als wichtigste Quelle für Schweizer Importe wurde ausgebaut.
  • 70% des Schweizer Luftverkehrs gehen in die EU bzw. kommen aus der EU. Das Luftverkehrsabkommen brachte der Schweiz einen Liberalisierungsschub und den Konsumenten tiefere Preise und bessere Verbindungen. Mit dem Landverkehrsabkommen hat die EU die Schweizer Verlagerungspolitik im alpenquerenden Güterverkehr anerkannt. Dies ebnete den Weg für die LSVA und die NEAT.
  • Traditioneller Handel wird immer mehr von grenzüberschreitenden Wertschöpfungsnetzwerken mit Just-in-Time-Prozessen abgelöst. Ein reibungsloser Verkehr von Zwischenprodukten über Grenzen ist dafür unabdingbare Voraussetzung. Die Abschaffung der Vor-anmeldepflicht («24-Stunden-Regel») im Abkommen über Zollerleichterungen ist darum ein zentraler Baustein der bilateralen Beziehungen mit der EU.
  • Die Personenfreizügigkeit (PFZ) hat das starke Wachstum, das ab 2003 die Weltwirtschaft prägte, in der Schweiz noch verstärkt. Das Land steuerte dank robustem Konsum auch besser als die meisten anderen Länder durch die «Grosse Rezession» von 2008/09.
  • Der Rückgang des Pro-Kopf-Wachstums ab 2009 als Folge eines langsameren Produktivitätswachstums war ein weltweites Phänomen. Die Schweiz produzierte aber wegen der Personenfreizügigkeit arbeitsintensiver, worunter der Produktivitätsfortschritt und damit auch das Pro-Kopf-Wachstum litten.
  • Ein Teil der Produktivitätsfortschritte wurde in der Schweiz allerdings für kürzere Arbeitszeiten bzw. einen höheren Teilzeitanteil eingesetzt, wird also im Bruttoinlandprodukt pro Kopf nicht sichtbar. Hier gab die Zuwanderung Gegensteuer.
  • Einige Probleme der alternden Gesellschaft konnten durch die Zuwanderung abgefedert werden, z.B. der sinkende Anteil der aktiven Bevölkerung.
  • Die Zuwanderung führte auf dem Arbeitsmarkt nicht zur Verdrängung von ansässigen Arbeitskräften, sie wirkte in erster Linie ergänzend und bekämpfte unter anderem den Fachkräftemangel.
  • Die Migrationsdividende (in Form zusätzlichen Wachstums) wurde nicht gleich verteilt: die ersten Gewinner einer Arbeitsmarktöffnung sind naturgemäss die Unternehmen und die Zuwanderer selbst. Trotzdem zählt auch der Mittelstand zu den Gewinnern der Personenfreizügigkeit, denn das zusätzliche Wachstum kompensierte den Nachfragerückgang nach mittleren Qualifikationen. Konkurrenz erwuchs vor allem den Arbeitskräften mit höheren Bildungsabschlüssen.

Mehr Flexibilität dank einer dezentral gesteuerten Zuwanderung

Nimmt man frühere Kontingentsregime zum Massstab, hat die Personenfreizügigkeit nur unwesentlich zur starken Zuwanderung beigetragen. Drei Viertel der Zuwanderer wären ohnehin in die Schweiz gekommen, weil sich die Schweizer Migrationspolitik immer am wirtschaftlichen Bedarf orientierte. Der grösste Vorteil der PFZ liegt darin, dass sie dezentral und unbürokratisch funktioniert und somit keine schädliche Regional- und Strukturpolitik zulässt. Auch wegen der guten Qualifikationen der Zuwanderer hat die Schweiz ein Eigeninteresse am Erhalt der PFZ – wenn auch mit wichtigen Anpassungen: Die Einwanderung sollte über die Verknüpfung eines langfristigen Globalziels und einer kurzfristigen Schutzklausel gesteuert werden. Zudem wären Massnahmen nötig, die den Sog in den Arbeitsmarkt reduzieren und die der Schweiz erlauben, zu einer eigenständigen Migrationssteuerung zurückzukehren. Zu denken ist etwa an die noch bessere Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, Massnahmen zur flexibleren Beschäftigung älterer Arbeitskräfte und eine Stellenbremse beim Staat.

What else?

Eine Kündigung der bilateralen Verträge ist auch deshalb nicht opportun, weil es keine geeigneten Alternativen gibt:

  • Das Freihandelsabkommen (FHA) von 1972 kann die Bedürfnisse der Wirtschaft nicht mehr abdecken, da es in erster Linie Zölle betrifft und auf veralteten Ursprungsregeln basiert.
  • Auch die WTO ist kein sicherer Ersatzhafen. Sie hat selbst an Bedeutung verloren, weil regionale Handelsblöcke immer mehr die multilateralen Beziehungen ablösen. Noch völlig offen ist, welche Auswirkungen das TTIP-Abkommen zwischen der EU und den USA auf die Schweiz haben wird.
  • Die Aushandlung neuer FHA bräuchte viel Zeit und würde hohe Unsicherheit verursachen.
  • Ein EWR-Beitritt brächte der Industrie kaum Vorteile, würde aber der Schweizer Finanzindustrie den Zugang zum EU-Markt erleichtern. Er wäre aber mit substanziellen Souveränitätsverlusten verbunden.

Fazit: Eine einseitige Kündigung der Bilateralen wäre eine Risikostrategie. Die Schweizer Wirtschaft ist in hohem Mass mit der EU verwoben. Ein Zurückdrehen der Uhr um 15 Jahre ist nicht möglich – und die Kosten einer Kündigung sollten nicht unterschätzt werden. Zu berücksichtigen sind auch die künftigen Entwicklungen in der EU. Obwohl die politische Integration angesichts des drohenden Austritts Grossbritanniens eher ins Stocken geraten könnte, dürfte der Binnenmarkt in wichtigen Bereichen (z.B. digitale Dienstleistungen und Kapitalmarktunion) weiter vertieft werden.

Es besteht keine Notwendigkeit, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Sowohl rechtlich als auch politisch ist es möglich, die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» ohne eine Kündigung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit umzusetzen. Der bilaterale Weg hat der Schweiz die grösstmögliche Nähe zur EU bei gleichzeitigem Anderssein ermöglicht. Vorerst bleibt er – trotz all seinen Schwächen – die beste aller Alternativen.