Gemäss umstrittenen Zahlen der englischen Nichtregierungsorganisation Oxfam sollen 65 Menschen das halbe Weltvermögen besitzen. Davon lebt eine Handvoll in der Schweiz. Weitere Zehntausend haben es hierzulande auf ein beachtliches Nettovermögen von mehr als 10 Millionen Franken gebracht. Wäre es also nicht naheliegend, diese «Happy Few» stark zu besteuern, zusammen mit den übrigen Mitgliedern des «einen Prozents», das – zumindest materiell – die oberste Sprosse der sozialen Leiter besetzt? Nun, besteuert werden sie bereits heute. Entgegen der landläufigen Meinung bittet unser Steuersystem die hohen Einkommen und Vermögen nämlich mit einer Vielzahl von meist progressiv gestalteten Steuern zur Kasse.

Alles Mögliche wird besteuert – derselbe Franken auch mehrfach

Zwar mag in der Schweiz – wie in vielen anderen Ländern auch – nur eine geringe Erbschaftssteuer anfallen, es finden sich jedoch viele weitere Steuern, die auf dem Bestand (die Vermögenssteuer der natürlichen Personen), dem Ertrag (Unternehmensgewinnsteuer), dem Vermögenstransfer (Stempelabgaben) oder auf dem Vermögenszuwachs (Grundstückgewinnsteuer) lasten. Kapital- und Vermögenserträge, die bei wohlhabenderen Haushalten einen grösseren Anteil am Gesamteinkommen bilden, werden somit mehrfach angezapft: Zuerst auf Unternehmensstufe mit Gewinn- und Kapitalsteuern, anschliessend auf Personenebene mit der Einkommenssteuer und der Vermögenssteuer.
Wie viel genau die Gesamtsteuerlast beträgt, lässt sich nicht leicht sagen: Die gängigen Statistiken zur Einkommensverteilung – beispielsweise jene über die Lebensbedingungen in der Schweiz des Bundesamts für Statistik – beruhen auf Stichproben, die selten mehr als wenige Tausend Befragte umfassen. Davon gehören also nur einige Dutzend zum besagten obersten Perzent. Schränkt man jedoch die Analyse auf die direkte Bundessteuer und die kantonalen Vermögenssteuern ein, liefern die Daten der Eidgenössischen Steuerverwaltung einen Einblick in die Steuerbelastung der Wohlhabenden. So erwirtschafteten im Jahr 2012 die hunderttausend bestverdienenden Einzelpersonen und Ehepartner mit einem steuerbaren Einkommen von über 200 000 Franken beachtliche 17 Prozent des steuerbaren Einkommens. Sie waren aber auch für fast die Hälfte der insgesamt 6,6 Milliarden Einnahmen der direkten Bundessteuer verantwortlich. Der Ertrag der kantonalen Vermögenssteuern fällt noch konzentrierter an: Hier leisteten 2010 die eingangs erwähnten zehntausend vermögendsten Schweizerinnen und Schweizer 37 Prozent des Steuerertrages. Im Kanton Zürich beispielsweise liefern die reichsten 10 Prozent immerhin 92 Prozent des Vermögenssteueraufkommens ab. In Genf und Basel-Stadt tragen sie 95 beziehungsweise 94 Prozent der Vermögenssteuern.
Am anderen Ende der Skala entrichtete über die Hälfte der Steuerzahler gar keine Vermögenssteuer, obwohl sie sehr wohl über Vermögen verfügen. Das steuerbare Vermögen stellt ja nur den kleineren Teil des Gesamtvermögens der Schweizer Haushalte dar – das in den drei Vorsorgesäulen angesparte oder versprochene Rentenkapital etwa gehört nicht dazu. Auf dem verbleibenden Nettovermögen wird ein je nach Kanton variabler Freibetrag abgezogen – meist zwischen 100 000 und 200 000 Fr. Erst ab einem steuerbaren Nettovermögen von deutlich über 200 000 Fr. greift die Vermögenssteuer.

Erst ab 5 Millionen Franken Einkommen beginnt die «Flucht»

Die relativ hohe Belastung der Vermögen in der Schweiz mag auch deshalb überraschen, weil die Steuersätze je nach Kanton und Gemeinde erheblich variieren. Während im Kanton Genf der Spitzensteuersatz der Vermögenssteuer bei satten 1 Prozent pro Vermögensfranken und Jahr liegt, beträgt er im Kanton Schwyz weniger als 0,2 Prozent. Angesichts dieser Unterschiede könnte man meinen, dass sich die sehr vermögenden Haushalte einen steuergünstigen Wohnsitz aussuchen würden. Das ist aber nicht der Fall. Erstaunlich wenig vermögende Steuerzahler haben sich für einen Umzug in die Kantone Schwyz oder Nidwalden entschieden. Ähnliches gilt für die Einkommenssteuer. Erst ab einem Einkommen von 5 Millionen Franken «flüchten» die Steuerzahler systematisch in Niedrigkantone. Diese Schwelle wird aber von nur 0,3 Prozent der Steuerpflichtigen erreicht. Damit wird einmal mehr klar: Steuern sind nur ein Standortfaktor unter vielen. Grosse Städte bieten andere Vorteile – vor allem das Infrastrukturangebot. Deshalb nehmen einzelne Steuerzahler höhere Steuern in Kauf. Und wer behauptet, die Reichen würden ihren «fairen Anteil» nicht beisteuern, hat weitgehend recht: Zumindest auf Bundesebene leistet das eine Prozent deutlich Überdurchschnittliches.

Dieser Artikel erschien in der «Handelszeitung» vom 21. Januar 2016.