Herr Müller-Jentsch, laut der heute veröffentlichten Machbarkeitsstudie zum Projekt «Cargo Sous Terrain» (CST) soll ein schweizweites Tunnelsystem für die Güterverteilung per Bahn rentabel zu betreiben sein. Wie beurteilen Sie die Chancen, dass ein solches Grossvorhaben – dessen erste Etappe allein 3,5 Mrd. Fr. kosten soll – einmal Gewinne abwerfen wird?

Ich bin da recht skeptisch. Ohne das Zahlenwerk der Machbarkeitsstudie im Detail zu kennen, scheint mir ein flächendeckendes Tunnelsystem für die Schweiz kaum finanzierbar. Tunnelbauten zählen zu den teuersten Verkehrsinfrastrukturen, bezogen auf die Kosten pro Kilometer. Zudem schafft man hier ein neues Infrastruktursystem, das parallel zu den bestehenden Systemen betrieben werden müsste. Bevor man die erste Etappe eines solchen Grossprojekts in Angriff nimmt, ist auch eine Kosten-Nutzen-Analyse des Gesamtsystems erforderlich. Wenn private Investoren das Projekt finanzieren, ist das ihre Entscheidung. Bevor jedoch Steuergelder fliessen, bedarf es einer kritischen Debatte.

Einmal angenommen, das CST-Projekt liesse sich tatsächlich rentabel betreiben, was halten Sie grundsätzlich von der Idee, eine unterirdische Güterbahn zu bauen?

Verkehrspolitisch halte ich es für die falsche Weichenstellung. Das System will uns helfen, angesichts stark wachsender Mobilität zunehmende Engpässe auf unseren Strassen und Schienen zu vermeiden. Aber für dieses durchaus drängende Problem gibt es drei alternative Lösungsmöglichkeiten. Erstens: Wir nützen neue Technologien, um Verkehrsflüsse zu optimieren. Zweitens: Wir nützen Preismechanismen – sprich Mobility Pricing –, um die Nachfrage zu drosseln und Verkehrsspitzen zu glätten. Drittens: Wir bauen neue Infrastruktur und schaffen so zusätzliche Kapazitäten.

Was wären Ihrer Meinung nach die Alternativen zum CST-Projekt, wenn wir den Verkehrskollaps vermeiden wollen?

«Cargo Sous Terrain» setzt die falschen Prioritäten in der Verkehrspolitik. Es ist ein reiner Hardware-Ansatz in Form neuer Infrastruktur. Software-Ansätze in Form innovativer Technologie und preislicher Anreize sind deutlicher billiger, flexibler und können viel schneller umgesetzt werden. Bis ein CST-System eine spürbare Verkehrsentlastung brächte, würden vermutlich Jahrzehnte vergehen und die Kosten wären immens.

Sie befürworten also Mobility-Pricing-Systeme. Doch wie gross ist der diesbezügliche Spielraum angesichts einer weitgehend ausgelasteten Infrastruktur überhaupt noch?

Die Überlastung der Verkehrsinfrastruktur ist ja gerade die Folge von falschen Anreizen, die durch Mobility Pricing in doppelter Hinsicht korrigiert werden könnten. Zum einen drosselt es die Verkehrsnachfrage durch höhere Preise. Aktuell zahlen die Verkehrsteilnehmer nur einen Teil der direkten und indirekten Kosten ihrer Mobilität selber. Hier brauchen wir mehr Kostenwahrheit. Zum anderen lenkt es den Verkehr durch differenzierte Tarife. Die Strassen und Schienen sind nämlich nur während der Stosszeiten und auf bestimmten Engpassstrecken überlastet. Nachts herrscht auf den Strassen gähnende Leere, und im Wochenverlauf bleiben 70% bis 80% der Sitzplatzkapazitäten bei den SBB ungenutzt. Gerade der Frachtverkehr liesse sich theoretisch auf wenig benutzte Randzeiten in der Nacht verlagern – dazu sind jedoch entsprechende Preissysteme erforderlich, aber auch neue Technologien wie leisere Elektrofahrzeuge.

Stichwort intelligente Verkehrssysteme: Von welchen Innovationen versprechen Sie sich am ehesten eine Entlastung unserer Infrastruktur vom immer noch Jahr für Jahr rasant zunehmenden Verkehrsaufkommen?

Es gibt wohl kaum einen anderen Bereich, der im Zuge der Digitalisierung und anderer Innovationen eine solche Umwälzung erfahren wird wie der Verkehr. Laut dem CST-Projekt soll die erste Etappe frühestens im Jahr 2030 in Betrieb genommen werden – doch bis dann werden wir in einer völlig neuen Mobilitätswelt leben, die wir heute noch nicht kennen. Selbstfahrende Autos, Carsharing, Apps zur Parkplatzsuche oder E-Mobility sind nur einige Beispiele für den tiefgreifenden Wandel. Möglicherweise wird es dann kleine Lastwagen mit Elektromotor geben, die unter Umständen sogar führerlos unterwegs sind und nachts weitgehend lautlos herumfahren. Oder Drohnen, die die Verteilung von Gütern auf dem Luftweg erledigen. Wenn wir uns jetzt auf «Cargo Sous Terrain» einlassen, verpflichten wir uns für Jahrzehnte auf eine bestimmte Verkehrstechnik. Verkehrspolitisch scheint es mir sinnvoller, die Softwarelösungen entschieden voranzutreiben – und dies sind Mobility Pricing und neue Technologien.

Interview: Robert Mayer

Dieses Interview erschien am 26.Januar 2015 auf tagesanzeiger.ch.
Mit freundlicher Genehmigung des «Tagesanzeiger».