Gerhard Schwarz. (Bild: Dominic Steinmann / NZZ)

Gerhard Schwarz. (Bild: Dominic Steinmann / NZZ)

NZZ: Herr Schwarz, nach fast sechs Jahren geben Sie das Amt als Direktor von Avenir Suisse ab. Sind Ihre Ziele erreicht?

Gerhard Schwarz: Ich habe mir zum Glück halbwegs realistische Ziele gesetzt und glaube, sie erreicht zu haben. Ein Anliegen war, Avenir Suisse als Institution stärker in den Vordergrund zu stellen, damit der Think-Tank unabhängig von der Person des Direktors ein gewisses Gewicht bekommt in der schweizerischen Debatte. Auch an der Kommunikation haben wir stark gearbeitet. Wir sind heute online sehr präsent und bringen unsere Themen in eine kürzere und sprachlich gut verdaubare Form.

Und mit Blick auf die Inhalte?

Erstens wollte ich das Thema Verteilung, das ich für eminent wichtig halte, aufs Parkett bringen. Mit unserer Mittelstandsstudie haben wir das meines Erachtens sehr umfassend getan. Zweitens ging es mir darum, erstmals in einem Buch das ganze Team zu involvieren. Unsere Publikation «Ideen für die Schweiz – 44 Chancen, die Zukunft zu gewinnen» ist eine solche Gesamtschau.

Wo liegen die Baustellen?

Die Kommunikation muss noch kürzer und leichter verdaulich werden, und auch an den Themen muss man weiterarbeiten. Gerne hätte ich die jüngeren Leute noch mehr für unsere Arbeit gewonnen. Wir haben zwar Versuche unternommen, vor allem mit dem Forcieren von Online und Social Media, und unsere Sichtbarkeit auf den elektronischen Kanälen ist bereits deutlich besser als etwa jene von Gewerkschaftsbund oder Economiesuisse, aber wir sind noch nicht am Ziel.

Aber es gab doch auch Misserfolge.

Die gibt es immer. Beispielsweise hat unsere Studie zum Konsumentenschutz kaum ein Echo ausgelöst, obwohl das Thema aufgrund der Digitalisierung hochaktuell und zukunftsträchtig ist. Was der Rezeption schadete, war der VW-Skandal. Wir wurden dargestellt als Organisation, die den Konsumentenschutz beschränken will. Dabei sagten wir nur, dass die Konsumenten dank der Digitalisierung so viele Informationsmöglichkeiten haben, dass staatlicher Konsumentenschutz und Regulierung nicht mehr im gleichen Ausmass notwendig sind wie früher.

Sie folgten als Avenir-Suisse-Direktor auf Thomas Held: Was unterscheidet die «Ära Schwarz» von der «Ära Held»?

Thomas Held musste ein Startup zum Laufen bringen. Er musste der Institution ein Gesicht geben. So wussten damals viele in der Schweiz nicht, was eine Denkfabrik ist. Ich konnte, darauf aufbauend, eher konsolidieren und das Tempo und die Kadenz erhöhen.

Nun übernimmt Peter Grünenfelder das Zepter. Wie ordnen Sie den Wechsel ein?

Peter Grünenfelder ist deutlich jünger, so dass der Generationenwechsel stattfindet, den es zwischen Held und mir nicht gab. Zudem ist er gut in Politik und Verwaltung vernetzt. Damit haben wir die Chance, dass die Botschaften noch stärker bei denen ankommen, die unsere Vorschläge umsetzen können.

Was zeichnet Avenir Suisse denn aus?

Vor allem die Unabhängigkeit von Parteien, aber auch von unseren Geldgebern aus der Wirtschaft.

Der Grundsatz, dass, wer zahlt, auch befiehlt, gilt bei Avenir Suisse nicht?

Er gilt mit Blick auf die Auswahl des Direktors. Mit dieser Wahl ist ein Programm verbunden, denn man kennt ja die Ansichten des Direktors einigermassen. Die Geldgeber können diesen höchstens absetzen, wenn sie unzufrieden sind, aber sie haben keinen Einfluss auf die Themen und die Positionen. Wir geniessen eine ähnlich grosse Unabhängigkeit von unseren Geldgebern wie die Nationalbank vom Staat.

Aber es gab auch schon Unmut unter Ihren Geldgebern, etwa als sich Avenir Suisse für Parallelimporte aussprach. Das kam bei Pharmafirmen nicht gut an.

Das hat uns aber nicht von dieser Position abgebracht. Die Mission ist es, für marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen im Interesse des ganzen Landes einzutreten, auch dort, wo einzelne Branchen darüber nicht glücklich sind.

Der Anspruch ist auch, Einfluss auf die wirtschaftspolitische Entscheidungsfindung zu nehmen. Ist das gelungen?

Meine erste Antwort lautet, dass wir keine Lobbyorganisation sind und nicht kurzfristig, sondern sehr langfristig ausgerichtet sind. Verfolgen lässt sich sicherlich die Resonanz, und die ist über die letzten Jahre gestiegen. Dann gibt es auch viel anekdotische Evidenz, dass unsere Vorschläge in der Politik auf fruchtbaren Boden fallen. Ein jüngstes Beispiel: Wenn Bundesrat Schneider-Ammann in einem Interview wohlwollend über die Idee einer unabhängigen Prüfstelle für Regulierungen spricht, hat dies fast sicher auch mit unserem Papier zum Thema zu tun. Und wenn irgendwann eine Erhöhung oder Flexibilisierung des Rentenalters in der Politik ankommt, haben wir dazu sicher einen Beitrag geleistet. Oft fliessen Ideen von uns in politische Vorstösse ein, ohne dass wir namentlich erwähnt werden. Aber wir haben nichts gegen solche «Plagiate».

Wenn ein Thema zur Abstimmung kommt, mit dem Sie sich befasst haben, sollten Sie dann nicht etwas dazu sagen?

Selbstverständlich, wenn es in einer Abstimmung um ein Thema geht, das wir behandelt haben, wäre es künstlich, sich einen Maulkorb umzuhängen. Aber wir sollten in Abstimmungskampagnen nicht einfach eine Seite vertreten, sonst sitzen wir am Schluss mit einer Partei im gleichen Boot; das wollen wir nicht. Besser steht uns die Rolle des unabhängigen, aber nicht neutralen Experten.

Welche Ihrer Empfehlungen löste in der Öffentlichkeit am meisten Lärm aus?

Unsere Studie über das Milizsystem. Sie enthielt die zugegebenermassen etwas provokative Forderung nach einem obligatorischen Bürgerdienst für alle.

Sie propagierten auch, dass Unternehmen bei der Neueinstellung von Ausländern freiwillig eine Abgabe zahlen. Warum sollten Firmen für etwas zahlen, das sie auch gratis bekommen?

Lanciert wurde die Idee noch vor der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative. Nicht alle unsere Förderer waren über den Vorschlag glücklich. Wir erklärten ihnen aber, dass bei zu grossem Unmut in der Bevölkerung ein Abstimmungsergebnis resultieren könnte, das für die Wirtschaft schlecht wäre. Deshalb sei es besser, wenn die Firmen die Sorgen der Bevölkerung rechtzeitig aufnähmen.

Man hörte nicht auf Sie.

Zunächst nicht. Aber einige Monate vor der Abstimmung, als der Unmut der Bevölkerung klar spürbar wurde, kamen einzelne Wirtschaftsverbände auf uns zu, und unser Vorschlag fand plötzlich weit mehr Sympathie als am Anfang.

Doch warum sollen Unternehmen eine solche freiwillige Zahlung leisten?

Weil wir in einer direkten Demokratie leben. Und weil es manchmal sinnvoll ist, auf Strömungen rechtzeitig zu reagieren und die Anliegen aufzunehmen, bevor ihnen mit staatlicher Regulierung auf eine sehr viel weniger liberale Weise Nachachtung verschafft wird.

Sie publizierten 1995 mit diversen Wirtschaftsführern das berühmt-berüchtigte Weissbuch. Als dessen Inhalt in der Öffentlichkeit auf heftige Kritik stiess, tauchten diese Wirtschaftsführer ab. Beobachten Sie heute mehr Zivilcourage, für liberale Ziele öffentlich einzustehen?

Es gab Leute mit mehr und solche mit weniger Zivilcourage. Wobei ich das gar nicht moralisch werten will. Einige konnten einfach nicht umgehen mit der Vehemenz der Kritik. Das hatte eine grosse Langzeitwirkung – bis heute.

Inwiefern?

Es gibt die Angst, «eins aufs Dach zu bekommen», wenn man sich als Wirtschaftsführer politisch exponiert. Man äussert sich als besorgter Staatsbürger, und am Schluss leidet das Image der Person und der Firma. Also bleibt man still und hält sich zurück. Das ist nicht gut.

Wie präsentiert sich denn heute der Nährboden für liberale Reformen? Fruchtbarer als noch Mitte der 1990er Jahre?

Es herrscht eine starke Tendenz, wirtschaftliche Probleme als Folge von zu viel Markt und Liberalisierung zu sehen. Die Wirtschaftskrise hat dem Ansehen marktorientierter Lösungen geschadet, ähnlichen Schaden richtete die Debatte über Spitzensaläre an. Auch der Zusammenbruch des Kommunismus spielt eine Rolle. Die Qualität eines freiheitlichen Systems wird heute nicht mehr gleich hoch geschätzt wie früher, als einem die Unmenschlichkeit des Gegenmodells plastisch vor Augen geführt wurde. Ich beobachte diese nachlassende Wertschätzung auch in bürgerlichen Kreisen.

Zur Lohndebatte: Reift bei Wirtschaftsführern die Erkenntnis, dass sie mit überzogenen Salären die freiheitliche Ordnung untergraben, da Lohnexzesse oft zu regulatorischen Reflexen führen?

Das Bewusstsein ist sicher gewachsen. Aber schon als die Debatte begann, sagten mir einzelne Wirtschaftsführer, sie seien zwar über die Lohnentwicklungen im Top-Management nicht glücklich, aber es sei fast unmöglich, nicht mitzumachen. Man finde kaum einen geeigneten CEO für 500 000 Franken, wenn die Konkurrenz 5 Millionen zahle. Wir leben in einer globalisierten Wirtschaft. Löhne globaler Konzerne, auch wenn sie in der Schweiz ansässig sind, können nicht am Lohn eines Regierungsrats im Kanton Baselland festgemacht werden. Das sind zwei Welten, die aufeinanderstossen – und das schafft Probleme.

Seit der Parlamentswahl in der Schweiz keimt die Hoffnung auf einen bürgerlichen Schulterschluss für eine liberale Agenda. Teilen Sie den Optimismus?

Ich bin leicht optimistisch. Ich würde den Schulterschluss zwar nicht überbewerten, aber ein bisschen öfter sollte es schon möglich sein, eine gemeinsame Linie zu finden. Es gibt jedoch nach wie vor viele Themen, bei denen die bürgerlichen Parteien sehr unterschiedlicher Meinung sind.

Sie bezeichnen sich als wertkonservativen Liberalen. Was heisst das?

Das ist eine Kombination, die häufig anzutreffen ist. Wertkonservativ heisst, dass für mich viele vermeintlich altmodische Werte wie Anstand, Verantwortung, Selbstdisziplin, Bescheidenheit, Rücksichtnahme, Treue, Respekt usw. wichtig sind. Oder dass ich in einer ziemlich «traditionellen» Partnerschaft und Familie lebe. Das ist mir wichtig und stimmt für mich. Oder dass ich Drogenkonsum nicht für eine gute Sache halte. Aber gleichzeitig sollen andere Menschen andere Werte, Lebensformen und Verhaltensweisen leben können. Man soll sie ihnen weder erschweren noch gar verbieten, solange das keine negativen Auswirkungen auf Dritte hat. Liberale wollen ihre persönlichen Werthaltungen nicht der Öffentlichkeit aufzwingen. Eine liberale Ordnung soll zulassen, dass konservativere Werte ebenso gelebt werden können wie zeitgeistige.

Jeder Weltanschauung liegt ein Menschenbild zugrunde. Hat sich dieses Bild im Verlauf Ihres Berufslebens verändert? Passt die Realität zur Theorie?

Das liberale Menschenbild ist gerade deshalb gut, weil es realistisch ist. Es geht nicht von einem idealen Menschen aus wie etwa der Sozialismus. Für Liberale ist der Mensch «ni ange ni bête», wie das bei Blaise Pascal heisst. Dieses realistische Menschenbild hat sich bei mir im Zeitablauf eher verstärkt. Die Menschen sind keine Engel. Man sollte daher keine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entwickeln auf der Basis, dass die Menschen Engel sind. Man sollte aber umgekehrt auch nicht meinen, die Menschen seien Bestien und man könne mittels Gesetzen und staatlicher Überwachung eine Art Paradies auf Erden schaffen. Vor allem darf man nie vergessen, dass auch die Menschen in Politik und Verwaltung Menschen sind, nicht schlechter, aber auch nicht besser als alle anderen Menschen.

Fand also keinerlei Umdenken statt?

Was mir immer bewusster wird, ist, dass Menschen fast immer nach Sündenböcken suchen, nach Schuldigen oder Verantwortlichen. Deswegen begegnen sie Marktlösungen mit so viel Skepsis, ja Widerstand, denn im Markt entstehen aus dem menschlichen Handeln ganz vieler Marktteilnehmer letztlich unvorhersehbare Ergebnisse, Preise, Knappheiten, Nachfragen und Angebote. Dieser faszinierende Prozess ist leider zu vielen Menschen suspekt.

Dieses Interview ist am 2. April 2016 in der «Neuen Zürcher Zeitung»  erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der NZZ-Redaktion.