Der Generationenvertrag ist ein Geben und Nehmen.

«Der Generationenvertrag wird als fair empfunden, wenn man etwa gleich viel zurückbekommt wie man gegeben hat.» (Fotolia)

«Medizin Aktuell»: Was ist unter «Generationenvertrag» genau zu verstehen?

Jérôme Cosandey: Jeder erbringt während seines ganzen Lebens Leistungen, in der Hoffnung, im Alter Gegenleistungen von jüngeren Generationen zu erhalten. Die Leistungen erfolgen einerseits privat, innerhalb der Familie, etwa indem ich für die Erziehung und Ausbildung meiner Kinder oder für die Pflege meiner Eltern sorge. Andererseits ist oft der Staat involviert, indem er Infrastrukturen und Sozialwerke finanziert. Es wird unterschieden zwischen finanziellen Leistungen (Erbschaften, Renten) und nicht-monetären Leistungen wie Zeit und Zuneigung.

Die Alterung der Gesellschaft wird sich in den kommenden Jahrzehnten zuspitzen. Ab 2020 gehen die Babyboomer in Pension: Was ist dann?

Der Generationenvertrag wird subjektiv als fair empfunden, wenn man über das ganze Leben betrachtet etwa gleich viel zurückbekommt wie man gegeben hat. Auf eine 80-jährige Person haben wir heute rund zwölf Menschen im Erwerbsleben. Diese Zahl wird sich in den nächsten 20 Jahren fast halbieren. Wenn dann dieselben Pflegeleistungen in Stunden erbracht werden sollen, braucht es doppelt so viele Fachleute.

Somit würden die Jungen übermässig zur Kasse gebeten…

Wir müssen uns überlegen, wie wir die Leistungen in der Pflege, der Erziehung, der medizinischen Versorgung und in der Altersvorsorge gestalten können, damit es für alle Generationen aufgeht. Wir müssen unsere Sozialwerke nachhaltig finanzieren. Es darf keine Versprechungen geben, die mit der Kreditkarte der Kinder bezahlt werden.

Was schlagen Sie vor?

Wir brauchen einen flexiblen Arbeitsmarkt, damit Beruf und Familie besser vereinbar werden. Nicht nur für junge Familien, sondern auch für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich um ihre betagten Eltern kümmern. Wir müssen uns vom festen Rentenalter – der Altersguillotine mit 65 – verabschieden und einen sukzessiven Austritt aus dem Berufsleben ermöglichen. Damit können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Kontakte weiter pflegen und die Arbeitgeber Wissen in der Firma behalten. Das Rentenalter müssen wir erhöhen, das entlastet die AHV: Die 20- bis 40-Jährigen rechnen heute damit, dass sie aufgrund der demografischen Entwicklung länger arbeiten werden. Im Gegensatz zur Schweiz haben 18 OECD-Länder das Rentenalter bereits auf 67 Jahre erhöht. Zudem sollten wir die Finanzierung der Alterspflege neu regeln. Uns schwebt – ähnlich der zweiten Säule – die Bildung eines Pflegekapitals ab 55 vor, das später für die Pflege benutzt wird. Wird es nicht gebraucht, wird es als Anerkennung für die Arbeit der Angehörigen an diese vererbt.

Kann man es sich überhaupt noch leisten, alt zu werden?

Die hohe Lebenserwartung ist eine Errungenschaft unseres Wohlstands. Das ist eine gute Nachricht. Sie stellt uns aber vor Herausforderungen in der Finanzierung der Sozialwerke und des Gesundheitswesens. Es ist nötig, dass wir Lösungen suchen. Wir wollen keinen Abbau, sondern einen Umbau. Das bedingt gedankliche Flexibilität. Die Frage ist nicht, ob, sondern wie wir uns das Alter leisten wollen.

Dieses Interview ist Anfang Juni in der Zeitschrift «Medizin Aktuell» erschienen.
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.