Nach der Katastrophe von Fukushima beherrschen neue erneuerbare Energien und ein allfälliger Ersatz der Atomkraftwerke den Energiediskurs der Schweiz. Die Denkfabrik Avenir Suisse rückt nun die vierte energiepolitische Säule, die Energieaussenpolitik, in den Fokus: Eine vom Ausland unabhängige Energie- und auch Stromversorgung sei weder technisch sinnvoll noch wirtschaftlich tragbar. Eine stärkere Integration in den europäischen Energiemarkt sei nötig, um die Versorgungssicherheit auch längerfristig zu garantieren.

Während die Schweiz bei Öl und Gas praktisch gänzlich auf Importe angewiesen ist, sei sie beim Strom derart eng mit den Nachbarländern vernetzt, dass die Versorgungssicherheit auch hier nicht mehr isoliert betrachtet werden könne, schreibt Energiespezialist Urs Meister von Avenir Suisse in seinem neuesten Buch «Energiesicherheit ohne Autarkie. Die Schweiz im globalen Kontext». «Grossflächige Netz- beziehungsweise Stromunterbrüche in Europa wirken direkt auf das inländische System und können dieses aus dem Gleichgewicht heben», heisst es in der Analyse. Auch der Bau von neuen Grosskraftwerken im Inland schaffe keine Unabhängigkeit vom Ausland. Sollten diese wegen Störungen oder Wartungsarbeiten stillstehen, steige der Importbedarf sprunghaft an. Dies habe der mehrmonatige Stillstand des grössten Schweizer Kernkraftwerks Leibstadt im Jahre 2005 klar gezeigt.

Neue AKWs sinnvoller als «Clean Tech»?

Trotzdem sollten bestehende AKWs nach ihrer Ausserbetriebnahme durch neue Grosskraftwerke ersetzt werden, da erneuerbare Energien wie Windkraft und Photovoltaik wegen ihrer unsicheren Produktion und des begrenzten wirtschaftlichen Potenzials im Inland die Grundlast nicht sicherstellen könnten. Eine höhere Effizienz sowie Veränderungen bei der Zusammensetzung des Energieportfolios vermöchten den Wachstumstrend des Verbrauchs zwar abzuschwächen, allerdings würde er dadurch nicht nachhaltig gebrochen oder gar umgekehrt, heisst es weiter. Eine inhaltliche Verbindung zwischen der Förderung von Energieeffizienz und neuen erneuerbaren Energien mit Wirtschafts- und Industriepolitik (Stichwort «Clean Tech»), erachtet Avenir Suisse nicht als sinnvoll. Es bestehe die Gefahr, dass ineffiziente Subventionen Wirtschaftszweige fördern würden, die längerfristig in einem freien und internationalen Markt kaum überlebensfähig wären.

Schweiz soll sich mehr im europäischen Markt einbringen

Auf den ersten Blick scheinen im Strommarkt die Interdependenzen mit Europa geringer zu sein als bei der Versorgung mit Öl und Gas. Bei genauerer Betrachtung aber offenbart sich gemäss Avenir Suisse eine sehr enge wirtschaftliche und technische Verflechtung. So ist Europa für Schweizer Kraftwerksbetreiber ein äusserst interessanter Handelspartner. Vor allem die zunehmend volatilen Strompreise im europäischen Markt würden den Betrieb von Schweizer Pumpspeicherwerken zur Stromveredelung zu einem wirtschaftlich äusserst attraktiven Geschäft machen. Der grenzüberschreitende Stromaustausch impliziere aber auch, dass die Preise in den benachbarten Ländern nicht unabhängig voneinander bilden. Sollte Strom in Europa knapp oder teuer werden, dann übersetze sich das auch auf das schweizerische Preisniveau – unabhängig vom schweizerischen Kraftwerkspark. Ungeachtet dieser ökonomischen Verflechtungen sei die Schweiz auch aus versorgungstechnischer Sicht eng mit Europa verbunden, schreibt Meister. So ist das Land bereits heute während der Wintermonate auf Importe angewiesen, um die Versorgung im Inland sicherzustellen. Das Ziel einer autarken Stromversorgung – wie sie von der Politik häufig gefordert wird – sei ohnehin weder technisch sinnvoll noch wirtschaftlich tragbar. Die Schweiz bräuchte zusätzliche (Gross-) Kraftwerke, um etwa ausreichend Produktionskapazitäten für Notfälle vorzuhalten, aber auch um inländische Pumpspeicherwerke zu betreiben. Die für den kleinen Markt überproportional hohen Kosten müssten Schweizer Konsumenten bezahlen.

Kraftwerkstrategie nach Fukushima

Das heisst umgekehrt nicht, dass die Schweiz ihren Strombedarf einfach mit Importen decken kann. So lässt sich etwa bei Störungen im Übertragungsnetz die Versorgung nur schwer aufrechterhalten, wenn inländische Produktionsmittel fehlen. In ihrer Publikation weist Avenir Suisse auf die Vorteile einer Kernkraftstrategie, relativiert aber auch deren Nutzen. Gerade bei sehr grossen Kraftwerken würde der Bedarf an Reservekapazität zunehmen, ausserdem bestünde eine Art «Klumpenrisiko » bei der Versorgung – beide Aspekte machen eine effektivere Integration in den europäischen Kontext nötig. Nach den Ereignissen in Japan könnte die Option Kernkraftwerke an Relevanz verlieren. Was aber wäre ein «Plan B»? Urs Meister evaluiert in seiner Publikation neben der Kernkraft, Importen und neuen erneuerbaren Energien auch Gaskraftwerke. Aber auch diese Option hat Schwächen. Einerseits stellen sie die Klimaziele in Frage, anderseits bestehen Versorgungsrisiken. In der Schweiz existieren heute keine strategischen Gaslager, zudem wird Gas grösstenteils über eine einzige Pipeline importiert. Aber auch weil Europa selber immer konsequenter auf Gaskraftwerke setzt, ist ihr Nutzen für die Schweiz begrenzt. Nach wievor ist die Abhängigkeit von russischem Gas und einer Handvoll Pipelines bedeutend. Versorgungsengpässe bleiben möglich und können die Stromproduktion empfi ndlich beeinträchtigen. Die Schweiz bräuchte daher vor allem ein Abkommen mit der EU, damit sie in Krisensituationen beim Gas nicht benachteiligt wird.

Vorteile einer Diversifizierung

Bei allen Energieträgern bestehen Versorgungsrisiken. Die häufi g geforderte und prognostizierte Substitution von fossilen Energien durch (vermeintlich einheimischen) Strom führe daher nicht zwangsläufig zu einer höheren Versorgungsstabilität. Zum einen würde dadurch die Diversifizierung der Versorgung geschwächt, zum anderen bestünden im europäischen Kontext zwischen den Energieträgern enge Interdependenzen – insbesondere zwischen Gas und Strom.

Aus der Analyse der Versorgungsrisiken für die Schweiz zieht Avenir Suisse folgende Schlüsse:

  1. Eine Vielzahl von Versorgungsrisiken geht nicht unbedingt mit einem physischen Ausfall der Versorgung einher; vielmehr ist damit zu rechnen, dass der Markt über Preiseffekte Angebot und Nachfrage zu einem Ausgleich führt.
  2. Während beim Öl und Gas eher geopolitische Risiken dominieren, stehen beim Strom technische Risiken im Vordergrund. Die technischen Risiken stehen vor allem im Zusammenhang mit den Netzinfrastrukturen.
  3. Risiken eines physischen Ausfalls sind daher vor allem auf Störungen bei den Transportnetzinfrastrukturen zurückzuführen. Solche Risiken sind bei Strom und Gas am grössten.
  4. Es besteht eine Interdependenz zwischen Netzen und Produktion: Die Gefahr von Versorgungsbeeinträchtigungen durch Störungen bei den Transportnetzen nimmt zu, je weiter Produktion bzw. Förderung und Verbrauch auseinander liegen.
  5. Es bestehen Interdependenzen zwischen den unterschiedlichen Energieträgern, insbesondere zwischen Gas und Strom: Da in Europa Strom vermehrt mit Gas produziert wird, übersetzen sich steigende Gaspreise direkt in höhere Strompreise.
  6. Versorgungsrisiken bestehen bei allen Energieformen. Generell gilt, dass eine Versorgung, die auf unterschiedlichen Energien basiert, eine tendenziell höhere Sicherheit bietet. 7. Sowohl steigende Energiepreise als auch Versorgungsunterbrüche sind mit volkswirtschaftlichen Kosten verbunden.
Dieser Artikel wurde am 25. Mai 2011 auf «fachpresse.com» veröffentlicht.